274 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates,
nach dem Rechte eines anderen beurteilt werden, denn das Recht
kann nur das werten, was seiner möglichen Herrschaft unterliegt.
Der tiefste Grund dieser Erscheinung liegt ın der Doppel-
natur des Staates. Nur wer den Staat ausschließlich als Rechts-
institut erfassen zu können glaubt, kann die Frage nach dem
Rechtsgrunde eines konkreten Staates erheben. Der Staat ist
jedoch zunächst eine historisch-soziale Bildung, an welche das
Recht sich erst anschließt, die es aber nicht zu schaffen vermag,
sondern die vielmehr die Grundlage seines Daseins ist. Rechtliche
Tatsachen gehen der Zeugung menschlicher Individuen voran und
knüpfen sich an sie an. Der Zeugungsakt selbst aber liegt
gänzlich außerhalb des Rechtes!).
Aus diesem Grunde kann das Dasein eines Staates rechtlich
nur auf seinem eigenen Willen ruhen. Ein Staat kann nie von
einem anderen rechtlich geschaffen werden, welchen Anteil. auch
immer ein Staat oder mehrere an dem historischen Bildungs:
prozesse eines anderen Staates haben mögen. Ein Staat ıst
nämlich Staat nur durch das Dasein unmittelbarer, staatliche
Funktionen versehender Organe. Die müssen aber stets diese
Funktionen frei versehen wollen. Ein Zwang zur Organisierung
eines Staates ist undenkbar, und ein Zwang für höchste Organe,
verfassungsmäßige Funktionen zu versehen, würde diese des
Charakters als Staatsorgane berauben?). Die Bildung des König-
reiches Westfalen wurde durch ein Dekret Napoleons angeordnet,
1) Vgl. auch Gierke in Schmollers Jahrbuch 1883 S.ö8ff., wa
er im Kern mit meinen Ausführungen, Lehre von den Staatenverbin-
dungen S.253ff., übereinstimmt. Auf die rein soziale, vorjuristische
Entstehung der Körperschaft überhaupt hat Gierke sodann energisch
Genossenschaftstheorie S.23ff. und Deutsches Privatrecht I S. 483 ff.
hingewiesen. Die sozialen Gründungsvorgänge sind ihm allerdings mit
Rechtssätzen verbunden. Das gilt zweifellos für die unter einer be:
stehenden staatlichen Rechtsordnung sich bildenden Körperschaften,
nicht für die Staaten selbst, da Völkerrechtssätze, die solche Grün-
dungen regeln, nicht nachweisbar sind. Grundsätzlich mir zustimmend
Seidler, Jur. Krit. S. 7i£. ‘
2) Daher liegt es auch nicht im freien Belieben der Staatsgewalt,
welche Verfassung sie einführen will. Ein hervorragendes Beispiel
hierfür bieten die österreichischen Verfassungskämpfe 1861-1867. Die
Verfassung vom 26. Februar 1861 hatte einen engeren und einen weiteren
Reichsrat in Aussicht genommen, letzterer auch aus den Abgeordneten
Ungarns bestehend. Er kam aber niemals völlig zustande, weil der
ungarische Landtag sich weigerte, ihn zu beschicken.