250 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
völlige Rechtlosigkeit herrschen, die niemals als im Willen des
Staates gelegen vermutet werden darf. Doch geht mit diesem
übernommenen Rechte eine tiefgreifende Wandlung vor, da es
trotz aller Kontinuität und materieller Gleichheit mit den früheren
Rechtssätzen nunmehr aus einer anderen (Quelle stammt, was für
seine Entwicklung von großer Bedeutung ist.
Genau dasselbe gilt aber bei Gebietszessionen. Völkerrecht-
lich ist über das auf dem abgetretenen Gebiete geltende Recht gar
nichts bestimmt, es sei denn, daß ausnahmsweise der Zessionar
dem Zedenten darüber Zusicherungen gemacht habe. Sobald ein
Staat ein Gebiet rechtlich in seiner Gewalt hat, kann dessen
Rechtslage gegenüber diesem Staate nur nach dem eigenen Rechte
des letzteren beurteilt werden, das durch einen höheren als des
Staates Willen formal-rechtlich nicht gebunden werden kann!).
1) Diese Fragen pflegen in den völkerrechtlichen Systemen behandelt
zu werden, so zuletzt von Rivier, Principes II p. 436ff.; Ullmann,
Völkerrecht S.129ff. Eine gründliche Untersuchung steht aber noch aus.
Knapp und inhaltsreich Anschütz, Verf.Urk. f.d. preuß. Staat I 1912
S.83ff. Vgl. auch Hatschek im Jahrb.d.ö.R. III 1909 S.25f. und
die eingehende geschichtlich-juristische Abhandlung von Hubrich in
Hirths Annalen 1908 S.662ff., 725ff. Ullmann, S.130, führt die
Fortdauer der bestehenden Rechtsordnung darauf zurück, daß Objekt der
Erwerbung ein organisierter korporativer Verband mit eigener Rechts-
ordnung sei, deren Herrschaft von dem Erwerber nur durch andere
rechtliche Willensakte abgeändert werden könne. In welcher Rechts-
ordnung aber hat dieser Satz seinen Ursprung? In der des Völkerrechts
sicher nicht (da es an einem dem Erwerber gegenüber berechtigten
völkerrechtlichen Subjekte mangelt und nur indirekt, sofern Rechte dritter
Staaten in Frage kommen, solche Fälle eine völkerrechtliche Seite
erhalten), also könnte er nur staatsrechtlich sein. Wo aber ist das
positive Staatsrecht zu finden, das annektierten Gebieten ihr Recht zu-
sichert? Der Satz Ullmanns gehört aber in Wahrheit nicht dem
positiven Rechte, sondern der rechtschaffenden aequitas an. Die
preußische Praxis von 1866 stand jedenfalls auf dem im Text angegebenen
Standpunkt, indem sie ausdrücklich das bestehende Recht bestätigte.
So hieß es in dem Hannover betreffenden Einverleibungspatent: „Wir
wollen die Gesetze und Einrichtungen des bisherigen hannoverschen
Landes erhalten, soweit sie der Ausdruck berechtigter Eigentümlichkeiten
sind und in Kraft bleiben können, ohne den durch die Einheit des Staats
und seiner Interessen bedingten Anforderungen Eintrag zu tun“, wie
denn auch ausdrücklich Schutz der erworbenen Rechte zugesichert wurde.
Vgl. Preußische Gesetzsammlung 1866 S.592. Genau in derselben Weise
wurde bei den übrigen preußischen Einverleibungen verfahren. Weitere
Beispiele bei Schoenborn a.a.0O. S.50ff.