Full text: Allgemeine Staatslehre

Neuntes Kapitel. Entstehung und Untergang des Staates. 281 
Schließlich ist an dieser Stelle noch die Frage zu erörtern, 
wie lange ein Staat derselbe bleibt. Die herrschende völker- 
rechtliche Lehre erklärt, daß weder tiefgreifende Verfassungs- 
wechsel und Revolutionen noch Vergrößerungen und Ver- 
kleinerungen des Staatsgebietes und damit des Staatsvolkes die 
Identität des Staates stören. Dieser allgemein anerkannte Satz 
ist aber nur möglich vom Standpunkte der Verbandstheorie aus. 
Eine Verbandseinheit ist unabhängig von der Zahl ihrer Mit- 
glieder und der Ausdehnung ihres Herrschaftsbereiches. Ein 
Wechsel in seiner Verfassung ändert die Form, aber nicht das 
Sein des Verbandes. Eine Verbandseinheit bleibt vielmehr die- 
selbe, so lange die Verbandselemente in ununterbrochener zeit- 
licher Kontinuität stehen und die konkreten Verbandszwecke 
wenigstens zum größten Teil ununterbrochen besorgt werden!), 
Im einzelnen Falle ist es aber oft nicht leicht, zu entscheiden, 
ob ein neuer Staat entstanden oder nur ein bestehender in einem 
seiner Elemente eine Änderung -erfahren habe. So hat es den 
Anschein, als ob 1707 das Königreich England zu existieren auf- 
gehört habe und an seine Stelle vermöge der Union mit Schott- 
land das Königreich Großbritannien getreten sei. In Wahrheit 
aber hat England durch Aufnahme Schottlands eine Vergrößerung 
erfahren, da die Union im wesentlichen nur einige, verhältnismäßig 
wenig bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung des eng- 
lischen Parlaments zur Folge hatte. Genau denselben Erfolg 
hatte 1800 die Vereinigung Irlands mit Großbritannien, trotzdem 
  
t) Diese Einheit bemißt sich allerdings nach den jeweilig geltenden 
sozialen Beurteilungsnormen, wie bei jedem Wechsel in den Elementen 
einer als einheitlich angesehenen sozialen Gruppe. Auf den bunten 
Wechsel mittelalterlicher Staatsbildungen mit gleichbleibender sozialer 
Grundlage sind unsere modernen Identitätsvorstellungen nicht ohne 
weiteres anwendbar. Daß die Frage nach den die Identität der Staaten 
verbürgenden Elementen bereits im Altertum eingehend diskutiert wurde, 
beweisen die Ausführungen des Aristoteles,Pol.IlI 1. Seine Lösung, 
daß der Staat mit dem Wechsel der Verfassung selbst sich ändere, ent- 
springt seiner Grundanschauung, die das \Wesen der Dinge in die Form 
setzt. Sie ıst seit Grotius von den Völkerrechtslehrern abgelehnt 
worden, allein mit Argumenten, die denen des bekämpften Gegners 
keineswegs ebenbürtig sind, zumal ja Aristoteles selbst die praktische 
Bedeutung der Frage: Fortdauer der Verpflichtungen des verwandelten 
Staates gegen. andere keineswegs verkannte und auch von seinem Stand- 
punkte aus eine den Verkehrsbedürfnissen entsprechende Lösung für 
möglich erklärte.
	        
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