Full text: Allgemeine Staatslehre

Neuntes Kapitel. Entstehung und Untergang des Staates. 285 
zugleich ein rechtlicher Vorgang ist, während im zweiten Falle 
der Akt der faktischen Staatszerstörung dem rechtlichen Vorgange 
der Einverleibung vorangeht. Es ist hier immer zuerst ein Zu- 
stand faktischer Okkupation vorhanden, an den erst der Rechtsakt 
der Einverleibung sich anschließen kann. Vollzogen ist diese 
Einverleibüung in dem Augenblicke, in welchem der Inkorporierende 
in völkerrechtlieh genügender Weise zu erkennen gibt, daß er 
das betreffende Gebiet als sich zugehörig betrachtet. Damit fällt 
aber keineswegs die staatsrechtliche Einverleibung zusammen. 
Beide Akte können vielmehr zeitlich weit auseinanderfallen, ja, 
der zweite braucht überhaupt nicht einzutreten, was an anderer 
Stelle näher zu erörtern ist. 
Genau dieselben prinzipiellen Fragen wie beim totalen 
Untergang der Staaten kommen bei der Lostrennung von Staats- 
teilen ins Spiel. Auch solehe Vorgänge sind, gleich dem Unter- 
gange des Besitzes im Privatrechte, stets in erster Linie faktischer 
Natur. Dieses Faktum kann, wie bei Abtretungen aller Art, sofort 
vom Rechte begleitet und im Rechte begründet sein. Allein 
solehe Trennungen können auch durch Gewalt erfolgen. Sie 
können aber auf die Dauer diesen bloß faktischen Charakter nicht 
beibehalten, da die Macht der internationalen Verkehrsverhältnisse 
selbst den verletzten Staat sehließlich zwingt, die geschehene 
Veränderung anzuerkennen, wodurch die Trennung und Einver- 
leibung allseitige Rechtsbeständigkeit erhält. In diesem einen 
Punkte unterscheiden sich derartige Vorgänge vom Untergange 
ganzer Staaten, wo niemand zurüeckbleibt, dem Recht oder Pflicht 
der Anerkennung des neugeschaffenen Zustandes zukäme. Ent- 
thronte legitime Herrscher und Prätendenten aller Art haben keın 
Recht, eine ihren Ansprüchen entgegenstehende Ordnung, die 
sich behauptet hat, zu bestreiten oder anzuerkennen. Die Hand- 
lungen derartiger Personen sind unter Umständen politisch von 
großer Bedeutung, rechtlich kann jede Handlung nur an einer 
bestehenden Rechtsordnung gemessen werden, wie immer diese 
entstanden sein mag. Von dieser aus sind aber solche Präten- 
dentenakte entweder reehtlich gleichgültig oder rechtswidrig. 
Nur wer eine lückenlose Naturreehtsordnung über dem positiven 
Staats- und Völkerrecht stehend behauptet und damit die Be- 
deutung der Machtverhältnisse für das Staatsleben verkennt, darf 
sich zur Lehre von dem Legimitätsprinzip bekennen!). 
  
1!) Weiteres über diese Frage in Kap.XI.
	        
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