Full text: Allgemeine Staatslehre

288 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
in allen ihren einzelnen Disziplinen; ja, auch nur ausschließlich 
eine bestimmte Seite des Staates in ihreın ganzen geschichtlichen 
Laufe erschöpfend darzustellen, erfordert die volle gesammelte 
Kraft vieler Forscher. Die Frage, um welche es sich an dieser 
Stelle handelt, ist einzig die nach der Beschaffenheit des staat- 
lichen Verbandes und der Stellung, die das Individuum in diesem 
Verbande einnimmt, in ihrem Gegensatz oder ihrer Übereinstim- 
mung mit den entsprechenden Verhältnissen des modernen 
Staates). 
1. Der altorientalische Staat. 
Unsere Kenntnis von der Art und den Institutionen der 
altorientalischen Staaten ist sehr mangelhaft und auf Grund der 
bisherigen Ergebnisse der Geschichtsforschung kein sicheres Urteil 
abzugeben über die Vorgänge, die zur Bildung so ungeheurer 
Reiche geführt haben, über ihre innere ÖOrganisatıon, die Vor- 
stellungen, die ihrer Rechtsordnung zugrunde liegen?). Mit 
allgemeinen Schlagwörtern wie Despotie und Theokratie ist 
wenig gewonnen). Denn was einmal die despotische Art der 
orientalischen Machthaber betrifft, so ging sie doch niemals so 
weit, überhaupt das Dasein einer Rechtsordnung zu verhindern. 
Es gibl ein ägyptisches, persisches, assyrisches, indisches 
Recht usw. mit scharf ausgeprägten Institutionen und einer 
  
1) Gegen die folgenden Aufstellungen wendet sich R.Schmidt, 
Staatslehre II1 S. 839 N. 1 und, replizierend, in der Ztschr. f. Politik I 
1908 S.22 N.1, ohne genügend in Betracht zu ziehen, daß es sich hier 
nicht um Typen handelt, die den ganzen Staat nach allen Seiten erfassen, 
sondern nur die Stellung des Individuums zum staatlichen Verband nach 
dessen Eigenart zeichnen sollen. 
2) Über die Anfänge der orientalischen Geschichte bemerkt 
L.v.Ranke, Weltgeschichte 4. Aufl. 1 S.86: „Ihr stellen sich überhaupt 
anfangs nicht große Monarchien dar, sondern kleine Stammesbezirke 
oder staatenähnliche Genossenschaften, welche eigenartig und unab- 
hängig voneinander herrschen.“ Vgl. auch Ed.Mever Geschichte des 
Altertums I 1884 S.618 und L. Wenger Die Verfassung und Verwaltung 
des orientalischen Altertums (Kultur der Gegenwart, Teil II, Abt. II1) 
1911 S. 18. 
3) Alle Anzeichen sprechen dafür, daß diese Formen der Endpunkt 
einer langen, wechselvollen Geschichte waren. Die israelitischen Tra- 
ditionen der vorköniglichen Zeit, die aristokratische Organisation der 
phönizischen Kolonien, das Volkskönigtum der Perser (Ed. Meyer | 
S. 608) zeugen dafür, daß der Orient nicht minder politisch mannigfaltig 
war wie der Okzident.
	        
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