294 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
Der aus der platonisch-aristotelischen Lehre geschöpite Typus
des antiken Staates ist ein Idealtypus, kein empirischer Typus.
Die zweite Quelle der landläufigen Ansichten über den
hellenischen Staat ist der moderne Liberalismus, dem es darum
zu tun war, seine Lehre vom Verhältnis des Staates zum Individuum
durch eine möglichst scharfe Antithese in hellstes Licht zu stellen;
die großen Staatslehrer des 16. und 17. Jahrhunderts hatten un-
bedenklich die antiken Theorien auf die neuere Zeit angewendet
und von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Staate
der Alten und dem modernen Staate nichts gewußt!). Aber
selbst noch Montesquieu weiß nichts von einem Gegensatze
antiker und moderner Freiheit?). Rousseaus Freiheitsgedanke
ist ganz dem antiken Denken entlehnt: die demokratische Bürger-
gemeinde einer griechischen Stadt hätte dem Rousseauschen
Staatsideal vollständig entsprochen). Die Vorstellung einer ur-
sprünglichen, vom Staate zu respektierenden Freiheitssphäre wird
von ihm ausdrücklich zurückgewiesen). Auch die deutsche
Staatslehre hat zu Anfang des 19. Jahrhunderts keinen klaren
Begriff eines Gegensatzes griechischer und moderner Freiheit).
1) Hobbes, Leviathan XXI p.20Lf., bekämpft die antike Lehre,
die Freiheit nur in der Demokratie verwirklicht sah, indem er ausführt,
daß diese Freiheit nur die des Staates, nicht die des Individuums ge-
wesen sei. Die individuelle Freiheit jedoch sei in allen Staatsformen
gleich groß: „Whether a commonwealth be monarchical, or popular, the
freedom ıs still the same“, d.h. die Unterwerfung des Individuums
unter den Staat ist überall gleich unbegrenzt.
£f) Montesquieu entwickelt im Esprit des lois X13 den Begriff
der politischen Freiheit als des individuellen Rechtes, alles zu tun, was
die Gesetze gestatten. Das sei aber nicht die demokratische Freiheit.
„I est vrai que dans les democraties le peuple paroit faire ce qu’il
veut; mais la liberte politique ne consiste point & faire ce que l’on
veut.“ Die politische Freiheit sei nur in gemäßigten Regierungsformen
zu finden. Von der Unfreiheit des antiken Menschen aber spricht
Montesquieu nirgends.
3) Selbstverständlich mit Ausschluß der Sklaven und Metöken.
4) Vgl. G. Jellinek Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
2. Aufl. 1904 S. 5f£f.
5) Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe
1813 S.350, erklärt den hellenischen Staat auf der vollkommensten
Freiheit und Persönlichkeit des einzelnen aufgebaut. Die weitgehende
Unterordnung des einzelnen unter das Ganze sei eine freiwillige ge-
wesen; dem Griechen sei Teilnahme am Staate als das Wertvollste er-