Full text: Allgemeine Staatslehre

300 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre' des Staates. 
Tyrannei verhaßt, die Volksherrschaft in verschiedenen Ab- 
stufungen die vom nationalen Geiste geforderte Regierungsform 
war. Dice dualistische Gestaltung des mittelalterlichen Staates ist, 
wie bald gezeigt werden wird, nur durch das Königtum möglich 
gewesen. Sodann sind es die unentwickelten internationalen Ver- 
hältnisse, die Rechtlosigkeit des Besiegten, welche die Existenz 
der Polis aufs innigste mit der eines jeden einzelnen verknüpften. 
Daher ist auch seine Gebundenheit an das kleine Gemeinwesen 
und in ihm zu erklären. Anderseits konnte aber auch der 
Mangel an freier Bewegung wenigstens dem der herrschenden 
Klasse Angehörenden gar nicht recht zum Bewußtsein kommen, 
denn was das Individuum durch den Staat einbüßte, wurde ihm 
reichlich durch seine Teilnahme am Regiment ersetzt. Wird 
doch in dieser Teilnahme geradezu das Wesen des Bürgers, sein 
Unterschied vom bloßen Einwohner erblickt. | 
Sodann aber war die Polis nicht nur Staats-, sondern auch 
zugleich Kultgemeinschaft, die sich jedoch wesentlich von orien- 
lalischer Art unterschied. Vor allem dadurch, daß keine gött- 
lichen Gesetze existierten, welche der politischen Entwicklung feste 
Bahnen vorschrieben, und keine staatliche Autorität, die als un- 
mittelbar von den Göttern eingesetzt galt. Immerhin ruht aber, 
was in der modernen Welt unter zwei Gebilde: Staat und 
Kirche verteilt ist, in der Polis in ungebrochener Einheit bei- 
sammen!). Daher allein schon muß der hellenische Staat von 
Hause aus ein größeres Maß von Anforderungen an seine 
Bürger stellen. 
Diese Verbindung von Staats- und Kultgemeinschaft erklärt 
auch ein anderes wichtiges Phänomen. Durch sie werden nämlich 
erst die in den Ausführungen der großen griechischen Denker 
  
schon Montesquieu, X1 8, 9, hervorgehoben. Vgl. jetzt Kaerst 
Studien zur Entwicklung und theoretischen Begründung der Monarchie 
un Altertum 1898. Hist. Bibliothek VI 2.Kap. S. 12 ff. 
1) Wenn Rehm, Staatslehre S.34, hervorhebt, daß die Griechen 
zwischen Weltlichem und Religiösem als Staats- und Kultgemeinschaft 
geschieden haben, so ıst das nur insoweit richtig, als ihnen der Gegensatz 
von Menschlichem und Göttlichem geläufig war. Eine selbständige 
Staatsgemeinde aber ohne besonderen Kult war ihnen unfaßbar; Stadt- 
gründung war in erster Linie Errichtung einer neuen Kultstätte. „La cite 
etaıt la rCunion de ceux qui avaient les mämes dieux protecieurs et qui 
accomplissaient l’acte religieux au mäme autel.“ F. de Coulanges 
p. 166 liv. III chap. VL
	        
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