Full text: Allgemeine Staatslehre

Zehntes Kapitel. Die geschichtlichen Haupttypen des Staates. 301 
gipfelnden Forderungen von Grund aus verständlich, welchen Er- 
ziehung des Bürgers zur Tugend als höchster Staatszweck, sitt- 
liche Betätigung als höchste Bürgerpflicht erschien. Sie liegen ın 
der natürlichen Konsequenz einer Staatsauffassung, die in ıhren 
Wurzeln zurückreicht in die alte Volksüberzeugung, die im Staate 
ein Werk der Götter erblickte, ihn als dauernde Heimat der 
Götter ansah, deren Verehrung erste und höchste Bürgerpflicht 
war. Der antike Staat ist auch Kirche; daher soll er nicht nur 
Recht, sondern auch Zucht üben. Er umfaßt alles, was dem 
Menschen heilig und teuer ist; darum soll sich der Hellene nicht 
aus Furcht vor äußerem Zwang, sondern aus innerster Gesinnung 
an den Staat hingeben. Garantierte ihm doch nur sein Staat das 
Dasein als Bürger und damit die damals allein menschenwürdige 
Existenz. 
Seit den Perserkriegen aber hatte der griechische Staat, 
Athen allen voran, eine gewaltige Entwicklung durchgemacht, 
die sich in der Richtung steigender Loslösung des Individuums 
von der ursprünglichen Gebundenheit manifestierte. Die alte naive. 
Hingabe an den Staat war durch zersetzende Kritik im Innersten 
angegriffen worden; die Sophistik hatte schließlich die Lehre vom 
Rechte des Stärkeren aufgestellt!). Was den Altvorderen als Teil 
der göttlichen Weltordnung erschien, war in den Augen der 
jungen Generation nur durch Menschensatzung da, und den Zweck 
dieser Satzung erblickten die Radikalsten in der Ausbeutung der 
Schwachen durch die Starken. Ferner löst sich Gedanke und 
Gefühl immer mehr los von der Polis, die so lange den Mittel- 
punkt alles Strebens gebildet hatte Schon Demokrit und 
Sokrates beginnen sich als Weltbürger zu fühlen; im Kynismus 
wird kosmopolitische Vaterlandslosigkeit Ersatz für alle politische 
Empfindung, und die Stoa setzt endlich das die ganze Menschheit 
zu umfassen bestimmte Weltreich an Stelle des Stadtstaates. In 
beiden Schulen tritt der individualistische Freiheitsbegriff bereits 
in voller Schärfe hervor?). Nicht minder hatte die Literatur, 
  
1) Daß diese Lehren nicht nur auf die engeren Kreise der Sophisten 
beschränkt blieben, wird von Pöhlmann, a.a.0.S.51 N.1, nach- 
gewiesen. Vgl. auch Dümmler Prolegomena zu Platos Staat, Basler 
Programm, 1891 S.30. 
2) Über den kynisch-stoischen Begriff der &ievdeota Kaerst S.28£., 
namentlich die bezeichnenden Zitate-S..29. N..1, in denen die Freiheit der 
individuellen Selbstbestimmung gleichgesetzt wird.
	        
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