302 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
— man denke nur an Euripides — an den Grundlagen des alt-
hellenischen Staatslebens gerüttelt. Diesen Bestrebungen gegen-
über erscheinen die politischen Lehren des Plato als Versuche,
entschwundene Verhältnisse wieder zu beleben und die Polis auf
konservativer althellenisch-dorischer Basis ım aristokratischen
Sinne zu regenerieren. Aber auch der der Wirklichkeit zu-
gewendete Aristoteles ist Vertreter konservativer Anschauungen,
wie namentlich aus seinem Festhalten an dem Typus der Polis
in den Bruchstücke seines Staatsideals hervorgeht. Der vor
seinen Augen sich zum Weltreich ausdehnende makedonische
Staat hat keinen Einfluß auf sein politisches Empfinden gehabt).
Es hatte sich also allmählich ein energischer Individualismus
geltendgemacht, der an Stärke dem modernen keineswegs nach-
stand. Ist doch die mechanische, atomistische, utilitarısche Staats-
auffassung, wie sie später namentlich das 17. und 18. Jahr-
hundert kennzeichnet, als theoretisches Resultat dieser Ent-
wicklungsreihe in vollster Schärfe in den Lehren der Epikuräer
hervorgetreten. Politisch aber hatte dieser Individualismus in der
athenischen Demokratie seit Perikles vollste Befriedigunz ge-
funden; hat doch Perikles selbst nicht nur die Hingabe des
einzelnen an das Ganze, sondern auch die überflüssiger Schranken
ledige soziale Freiheit des Atheners gepriesen?). Aber auch die
Antithese des Freiheitsbegriffes: Teilnahme am Staate und Freiheit
vom Staate, war bereits klar in das wissenschaftliche Bewußtsein
2) Vgl.v. Wilamowitz-Moellendorff, a.a.0. S. 356 ff., über
den besten Staat des Aristoteles: „Was wir hier lesen, ist der platonische
Staat, der in Platons Gesetzen schon einmal auf das unter den gegebenen
Verhältnissen Mögliche herabgestimmt war und hier noch einmal einer
solchen Prozedur unterzogen wird.‘
2) Thukyd.11 37. Über das große Maß faktischer Freiheit, das jene
Epoche dem Individuum (und zwar auch dem Nichtbürger) gewährte,
vgl. Beloch, Griechische Geschichte I 1893 S. 474, der — wohl über-
treibend — behauptet: „Befreiung von jedem Zwange, er sei, welcher
er sei, ist überhaupt das Streben dieses Jahrhunderts, und vielleicht:
niemals wieder ist dieses Ideal so verwirklicht worden wie in dem
damaligen Athen.“ Über den heutigen Stand der griechischen Forschung,
die so mancher Überlieferung widerspricht, vgl. Ed.Meyer, Gesch. d.
Altertums III 1901 S.291, der auch hervorhebt, wie wenig deren um-
wälzende Ergebnisse in weitere Gelehrtenkreise gedrungen sind. Auch
die Polemik von Gierke, Althusius S. 329, und v. Lemayer, Begriff
des Reclıtsschutzes S.9, gegen meine Darlegungen haben noch nicht jene
Ergebnisse berücksichtigt.