Full text: Allgemeine Staatslehre

304 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
waren. als ob der moderne Staat sich um die Erziehung nicht 
kümmerte. Zudem ist uns in der Regel gar nicht genau bekannt, 
aus welcher Zeit die betreffenden Gesetze stammen, ob sie 
dauernder Natur oder nur Gelegenheitsgesetze waren. Zweifellos 
aber sind viele dieser Gesetze durch jahrhundertelange Zeiträume 
voneinander getrennt, so daß allgemeine Sätze über sie ungefähr 
denselben Wert haben, wie wenn man das deutsche Strafrecht 
der Gegenwart nach der Carolina beurteilen wollte. 
Auf Grund ähnlicher Beweisführung, wie sie Coulanges!) 
und andere üben, könnte ein späterer Historiker den Staaten des 
19. Jahrhunderts die Anerkennung einer individuellen Freiheits- 
sphäre gänzlich absprechen. Er brauchte nur an die Gesetze 
gegen die Katholiken in England bis 1829, die Vertreibung der 
protestantischen Zillertaler, die Demagogenverfolgungen in Deutsch- 
land im zweiten und dritten Dezennium auf Grund der Karls- 
bader Beschlüsse, an die Maßregelung der Göttinger Sieben, an 
die Absetzung von Dozenten wegen atheistischer Lehren Anfang 
der fünfziger Jahre zu erinnern — ganz zu geschweigen von den 
Polizeimaßregeln des imperialistischen Frankreichs und des 
absolutistischen Österreichs bis zu den russischen Verhältnissen 
der Gegenwart. 
In Wahrheit ist aber, namentlich in Athen, mit steigender 
Kultur ein immer größeres Maß individueller Freiheit faktısch 
vorhanden gewesen. Wie wären auch sonst die unerreichten 
geistigen Schöpfungen jener Zeit entstanden! Eine von Staats 
wegen reglementierte Kunst und Wissenschaft hätte wahrlich nur 
kümmerliche Früchte getragen. Die von Plato vorgeschlagene 
Literaturpolizei ist niemals verwirklicht worden; die Ehre der 
Einführung der Zensur müssen die vom Staate gefesselten Alten 
den freien Modernen überlassen! Wenn die, Geschichte von 
mehreren Prozessen wegen Un- und Irrglaubens zu erzählen 
weiß?), was bedeuten diese wenigen, sorgsam registrierten Fälle 
  
1) A.a.0. p. 263. 
2) Über die Asebieprozesse vgl. Lipsius Das attische Recht und 
Rechtsverfahren, II! 1908 S.358 ff. Gegen die von Grote vertretene irrige 
Auffassung dieser Prozesse energisch Pöhlmann, Sokrates u. sein Volk, 
Hist. Bibliothek VIII 1899 S. 122ff., der behauptet, daß die Anklage wegen 
Asebie immer auf politischen Motiven beruhte. Den politischen Charakter 
der Asebieprozesse hat schon früher L.Schmidt, Die Ethik der alten 
Griechen I S.25f., behauptet. Dieser Ansicht ist nunmehr Ad. Menzel,
	        
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