Full text: Allgemeine Staatslehre

305 Zweites Buch. Allgemeine Soziallelıre des Staates. 
zweierlei; je weiter unsere Kenntnis des griechischen Privat- 
rechts dringt, desto mehr finden wir, daß der Rechtsschutz im 
Privatinteresse ausgebildet wart). Nicht minder waren die poli- 
tischen Rechte als individuelle Rechte anerkannt und ausgebildet. 
Die rechtliche Qualifikation der Person als Bürgers, das Bürger- 
recht, ist Gegenstand genauester Festsetzung gewesen, nicht nur 
durch innerstaatliche Gesetze, sondern auch durch Staatsver- 
träge. Die Formen der hellenischen Staatenverbindungen: die 
Isopolitie und Sympolitie, waren wesentlich auf die Ausgestal- 
tung des Bürgerrechtes in diesen Verbänden aufgebaut?). Ebenso 
waren die Funktionen dieses Bürgerrechtes: Anspruch auf 
Leistungen der Gerichte und Teilnahme am Staatsleben, in ihrer 
rechtlichen Qualität klar erkannt und anerkannt. Ja, nicht nur 
dem Vollbürger, auch dem Schutzverwandten stand ein fest zu- 
  
schließlich auf Aristoteles, nicht auf den realen rechtlichen Institutionen 
der Hellenen. 
1) Das hat schon Freese, a.a.0. S.5ff., energisch hervorgehoben. 
Die Gründe des Mangels einer attischen Rechtswissenschaft sind mannig- 
faltig; nicht zum geringsten mag die Charakteranlage des athenischen 
Volkes mitgewirkt haben; vgl. Wachsmuth Hellenische Altertums- 
kunde II 2. Aufl. 1846 S.160ff. Wer wird aber heute, im Zeitalter 
breitester historischer Rechtsforschung, dem hochmütigen Ausspruch 
Ciceros, De orat. I 44, beitreten: Incredibile est enim, quam sit omne 
jus civile praeter hoc nostrum, inconditum atque ridiculum? Diesen 
Standpunkt haben allerdings lange die Romanisten gegenüber den Ger- 
manisten festgehalten, konnten sie doch den Fehlschluß von dem 
Mangel einer Rechtswissenschaft auf den Mangel eines Rechtes auf 
das deutsche Recht des Mittelalters in ähnlicher Weise anwenden, wie 
die herrschende Lehre aus dem Fehlen einer platonischen und aristote- 
lıschen Jurisprudenz auf das Nichtvorhandensein der selbständigen 
individuellen Persönlichkeit in Hellas schließt. Aus neuerer Zeit lehrt 
uns die Geschichte der englischen Jurisprudenz, wie wenig man aus 
der Literatur eines Volkes sichere Schlüsse auf dessen Recht ziehen 
kann. Von der im 18, Jahrhundert sich ausbildenden parlamentarischen 
Regierung weiß die gleichzeitige englische Rechtswissenschaft nichts; 
das Dasein eines Kabinetts wird von Blackstone mit keiner Silbe 
erwähnt. Auch später verdanken wir kontinentalen Schriftstellern bessere 
und gründlichere Darstellungen des öffentlichen Rechtes Englands als 
den Engländern selbst, der sicherste Beweis dafür, daß dieses Volk 
nicht imstande ist, auch geistig zu beherrschen, was es geschichtlich 
geschaffen hat. 
2) Vgl. Schömann Griechische Altertümer, 4. Aufl. I 1897 S. 373 ff. ; 
Busolt a.a.0. S.200ff.; Szanto Das griechische Bürgerrecht 1892 
3.67 ff., 104 ff.
	        
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