310 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
Leiturgie designiert war, über Pflicht und Vermögen belastet
glaubte, so konnte er dagegen in der Weise reklamieren, daß
er einen anderen bezeichnete, dem die Leistung mit größerem
Rechte zukäme!).
Angesichts dieser Tatsachen möge die namentlich aus dem
dorischen Idealtypus und Plato zusammengestümperteConstant-
Stahl-Mohlsche Lehre von der Nichtanerkennung der indivı-
duellen Persönlichkeit in Hellas endlich aus der Literatur ver-
schwinden. Der Grieche war Rechtssubjekt nicht nur um des
Staates, sondern auch um seinetwillen. Die Allmacht des Staates
ging, namentlich in Athen, nie so weıt, daß dem Bürger nicht
eine umfangreiche faktische Sphäre freier Betätigung geblieben
wäre. Formal juristisch war sie übrigens der heutigen Freiheit
völlig gleichwertig, da diese auch nur als Freiheit vom Rechts-
gebot definiert werden kann. Auch die Beschränkung des mo-
dernen Staates hinsichtlich der individuellen Freiheit ist juristisch
Selbstbeschränkung, die in verschiedenen Staaten verschiedene
Ausdehnung hat. Absolute juristische Schranken für den Staat
in seinem Verhältnis zum Individuum gibt es nicht und sind,
wie die Erfahrung gelehrt hat, auch nicht in grundgesetzlichen
Einschränkungen vorhanden, denen man zu Zeiten Constants
noch einen übermäßigen Wert zuschrieb. Der Unterschied
zwischen der Stellung des antiken und modernen Individuums
zum Staate liegt also seiner juristischen Seite nach nur darin,
daB die Freiheit des letzteren innerhalb der Gesetze vom Staate
ausdrücklich anerkannt ist, während sie beim ersteren so selbst-
verständlich war, daß sie niemals einen gesetzgeberischen Aus-
druck fand.
Schließlich sei noch hervorgehoben, daß die angebliche Vor-
stellung von der Unselbständigkeit des Individuums gegenüber
dem Staate ın den hellenischen Institutionen so wenig ausgeprägt
ıst, daß vielmehr der Staat selbst nur als eine höhere Einheit
der Individuen erschien, die in dieser Einheit aber als Vielheit
fortexistierten. Das ist vor allem in den Namen der einzelnen
hellenischen Staaten zum Ausdruck gekommen, die stets durch
den Plural des Bürgernamens bezeichnet werden. Athen heißt
1) Über diese Prozesse und das eigentümliche Institut des Vermögens-
tausches Böckh Die Staatshaushaltung der Athener I 3. Aufl. S. 673 ff.;
Busolt S. 299.