316 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
Weltreiches bildet sich der neue Gegensatz von Gläubigen,
Ketzern und Ungläubigen, von denen nur die ersteren volle
Existenzberechtigung haben. Wenn Prinzipat und Kaisertum die
öffentlichen Rechte der Person auf ein Minimum reduziert hatten,
so daß das Wesen des Bürgers schließlich beinahe nur in der
Privatrechtsfähigkeit rubte, so wird nun die bis dahin in relı-
siösen Dingen, soweit nicht staatliche Interessen direkt in Frage
kommen, faktisch bestehende Freiheit!) völlig vernichtet. Der
römische Staat seit Konstantin und das byzantinische Reich
sind die Bildungen, auf welche einzig und allein der Satz paßt,
daß das Individuum als selbständige Existenz dem Staate un-
bekannt sei. Niemals hat es in der Geschichte der abendlän-
dischen Völker eine Epoche gegeben, in welcher das Individuum
mehr zerdrückt worden wäre als in dieser, zumal ihm keine
geschichtliche Möglichkeit gegeben war, wie dem Menschen der
späteren absolutistischen Bildungen, diesen Druck von’ sich ab-
zuwälzen. Nur von einer, überdies kümmerlich geschützten Privat-
rechtssphäre umgeben, genoß der einzelne weder Macht noch
Freiheit von der Macht. Tiefes Dunkel, das erst jetzt zu weichen
beginnt, hat sich namentlich über die spätere Zeit Ostroms ge-
breite, in welcher der Staatsabsolutismus seine höchsten
Triumphe feierte.
4. Der mittelalterliche Staat.
Der antike Staat ist eine durchgängige, keine innere Spal-
tung duldende Einheit. Der Gedanke des einheitlichen Wesens
des Staates durchdringt die ganze politische Entwicklung und
Wissenschaft des Altertums. Eine Zerreißung des Staates in
Herrschende und Beherrschte, die sich nach Art kämpfender und
Frieden schließender Parteien gegenüberstehen, ist ihm immer
fremd geblieben.
In diesem Punkte liegt nun der bedeutsamste Gegensatz zu
der Staatsentwicklung des Mittelalters, namentlich bei den ger-
manischen Völkern. Was Hellas und Rom ursprünglich gegeben
war, mußte von den neueren Völkern in hartem und schwerem
Kampfe erst errungen werden.
1) Die Indifferenz der Römer in religiösen Dingen, die Freiheit, die
sie freınden Kulten derart gewährten, daß das Heidentum in „Theokrasie"
endete, sind allbekannt; ebenso, daß die Juden- und Christenverfolgungen
nicht religiöser, sondern politischer Natur waren.