Zehntes Kapitel. Die geschichtlichen Haupttypen des Staates. 317
Die mittelalterliche Geschichte beginnt mit höchst rudimen-
tären Staatsbildungen, die sich erst nach und nach zu dem
steigern, was uns heute als Staat im vollen Sinne erscheint.
Und zwar ist es die antike Idee der Staatseinheit,. welche in
diesem Staatenbildungsprozesse nachwirkt; das nie vergessene
Vorbild des römischen Reiches mit seiner festen Organisation
und Zentralisation, mit seiner Konzentrierung der Staatsgewalt
beeinflußt nachweisbar die Entstehung und Durchbildung der
großen Reiche der mittelalterlichen Welt!), von denen die meisten
sich nur kurze Zeit behaupten können, um sodann entweder in
Teile zu zerfallen oder gänzlich zu verschwinden. Ausnahms-
weise haben auch morgenländische Ideen auf die Bildung christ-
licher Staaten gewirkt, namentlich auf die des Normannenreiches
in Sizilien in der Form, die ihm Kaiser Friedrich II. gegeben hatte,
das einer Mischung von sarazenischem und spätrömischem Staate
glich, d. h. einer durch eine despotische Beamtenschaft zusam-
mengefaßten willenlosen Horde 'steuerpflichtiger, in ihrem Privat-
leben fühlbar kontrollierter Untertanen?). Aber auch dieser erste
Versuch, einen einheitlichen Staat mit starkem, unwidersteh-
lichem Imperium zu schaffen, verschwindet bald spurlos.
Die Unfertigkeit des Staates der germanischen Welt am
Beginne ihrer politischen Geschichte zeigt sich vor allem darin,
daß ein wichtiges Element des vollendeten Staates sich erst nach
und nach ın ihm herausbildet. Der germanische Staat ist ur-
sprünglich völkerschaftlicher Verband, dem die stetige Beziehung
zu einem festen Territorium mangelt3). Die dauernde Ver-
ii
1) Über den Eindruck, den der Anblick des Römerreichs auf die ein-
dringenden Germanen machte, vgl. Bryce The Holy Roman Empire
11 ed., London 189, p. 16ff. Welche Stellung man auch zu der Frage
nach der Einwirkung römischer Institutionen auf die Bildung des
Frankenreiches einnehmen möge (vgl. Brunner Deutsche Rechts-
geschichte Il 1892 S.2ff.,, so wird man für die Zentralisation der
fränkischen Verwaltung das "Worbild Roms schwerlich leugnen können.
Vgl. auch Lamprecht Deutsche Geschichte I 1891 S. 299 ft.
2) J.Burckhardt a.a.0. S.3£.; Winkelmann Gesch. Kaiser
Friedrichs d. Zweiten I 1863 S. 127; K. Hampe Deutsche Kaisergeschichte
1909 S. 225.
3) Schröder Rechtsgeschichte S.i6ff. — G.Grosch, Der Staat
und seine Aufgabe, Arch. f.ö.R. XXV 1909 S.432ff., leugnet daher den
Staatscharakter jener Verbände, mit Recht, wenn man die Vergangenheit
an unsern heutigen Begriffen messen dürfte.