Full text: Allgemeine Staatslehre

328 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
licher Souveränetät dem Staate Schranken gezogen sind. Die 
mittelalterlichen Freiheiten und Privilegien von einzelnen, Körper- 
schaften, Ständen stehen in nachweisbarer geschichtlicher Ver- 
knüpfung mit den modernen verfassungsmäßigen Freiheiten. 
Ebenso hat der Gegensatz von Staat und Kirche nach langen 
Kämpfen die heute in den Kulturstaaten allgemein herrschende 
Überzeugung ausgewirkt, daB an dem religiösen Gewissen seiner 
Glieder die Staatsmacht eine unübersteigliche Schranke habe. 
Der potentiell schrankenlose Staat der juristischen Theorie hat 
sich zwar energisch gegen die kirchlichen Anmaßungen zur Wehr 
gesetzt, die ihm ein selbständiges, von ihm unabhängiges äußeres 
Herrschaftsgebiet entgegenstellten, ist aber durch diese Kämpfe 
zur Überzeugung gelangt, daß faktische Grenzen des Imperiums 
in der religiösen Innerlichkeit des Individuums und deren Be- 
tätigung liegen. Diese durch die in der Reformation geschaffenen 
Gegensätze vermittelte Überzeugung ist in erster Linie be- 
stimmend für die ganze moderne Gestaltung des Verhältnisses 
von Staat und Individuum geworden. 
Ohne diesen zwiefachen Dualismus des mittelalterlichen 
Staates wäre es schwerlich zur Erkenntnis und ausdrücklichen 
Anerkennung des Individuums als selbstberechtigter, vom Staate 
nicht gänzlich zu absorbierender gesellschaftlicher Macht ge- 
kommen. Diese Anerkennung ist wenigstens keiner anderen Kultur- 
epoche und keinem anderen Kulturkreise mit ausgebildetem Staats- 
gedanken eigen. Als der römische Staat schließlich zum starrsten 
Absolutismus und strengsten Staatskirchentum überging, da 
erhob sich von keiner Seite auch nur der leiseste Widerspruch, 
weil er auf Grund der voraufgegangenen Geschichte unmöglich 
gewesen wäre. Die staatsfreie Sphäre der antıken Menschen 
war eben ein Prekarium, das er nach seiner ganzen Welt- und 
Staatsanschauung zu verteidigen und in ein Recht zu verwandeln 
nicht in der Lage war. Auch spätere Staatsbildungen, die den 
Dualısmus von Fürst und Volk gar nicht und den von Staat 
und Kirche nur in geringem Maße erlebt haben, wie das byzan- 
tinische Reich und endlich der russische Staat, sind niemals zu 
ausdrücklicher Anerkennung prinzipieller Grenzen zwischen Staat 
und Individuum gelangt. Der Staat des Altertums kannte keine 
andere Verwirklichung des Freiheitsgedankens als die demokra- 
tische Staatsform; mit vollem Rechte, da im monistisch gebauten 
Staate die Teilnahme aller an der Herrschaft die einzig mögliche
	        
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