330 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
Staatslehre fehlte eben jeder Grund, dem Individuum eine ur-
anfänglich dem Staate gegenüber selbstberechtigte Stellung zu
geben. Der Staat erscheint in den antiken Theorien als allmächtig,
weil jedes Motiv für eine rechtliche Beschränkung mangelt und
in dem streng einheitlich gebauten, stets nur auf einem einzigen
primären, unmittelbaren Organe ruhenden Staate jede Möglich-
keit konstitutioneller Beschränkung hinwegfiel.
Im Staate der Gegenwart zeigt sich die Wirkung des Dua-
lismus einmal in der Formulierung abstrakter Freiheitsrechte,
welche die Idee der begrenzten, die eigenberechtigte Persönlich-
keit wahrenden staatlichen Untertanschaft des Individuums zu
gesetzgeberischem Ausdrucke bringen wollen. Sie zeigt sich aber
sodann, wie später eingehend erörtert wird, auch in der Auf-
stellung von Verfassungsurkunden, die die Grundlagen der ge-
samten Staatsordnung in sich enthalten sollen. Der alten Welt
und allen von europäischer Gesittung unberührten orientalischen
Kulturnationen ist die Vorstellung der geschriebenen Verfassung
schlechthin unbekannt geblieben. Sie beruht eben auf dem nur
im dualistischen Staate entstehenden Gedanken der Verbriefung
der Rechte des einen Teiles durch den anderen, sie ist eine
Art Friedensvertrag, dem lange Kämpfe vorangegangen sind.
Diese geschichtlichen Voraussetzungen der geschriebenen Ver-
fassungen sind heute zwar nicht mehr im allgemeinen Bewußt-
sein lebendig, allein immer noch wirkt auch heute im Fordern
und Entwerfen einer Verfassungsurkunde der Gedanke nach, daß
durch genaue Fixierung der Rechte und Pflichten der Regierung
ihr Wirkungskreis gegen das andere Element des Staates, das
Volk, fest abgegrenzt sein solle. Es ist bezeichnend, daß der
Staat, der am frühesten und gründlichsten den Dualismus
zwischen rex und regnum in sich überwunden hat, der englische,
gleich den Staaten des Altertums, keine Verfassungsurkunde im
modernen Sinne besitzt und nichtsdestoweniger in diesem Staate
die Erinnerung an die Stellung von König und Parlament als
paziszierender Teile sich durch die großartige historische Konti-
nuität der Entwicklung von der Zeit, da die Krone mit den
trotzigen Baronen die Magna Charta paktierte, bis zur Parla-
mentsverfassung der Gegenwart lebendig erhalten hat.
Am tiefsten wirkt aber der Dualismus in der ganzen Aus-
gestaltung des konstitutionellen Staates nach. Man hat in dem
Fehlen der Repräsentationsidee den Hauptunterschied zwischen