338 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
in den Werten, die in Verkehr und Sitte herrschen, kommt das
zum Ausdruck. Schmackhaft dünkt den meisten Menschen die
heimatliche Zubereitung der Nahrung, schön der Tvpus des
eigenen Stammes, löblich die Vorurteile des Kreises, dem ınan
angehört, richtig die Lebensweise der Gesellschaftsklasse, der man
sich zuzählt.
Die Tendenz, das Faktische zum Normalen zu erheben, kann
man in voller Reinheit beim Kinde studieren. Das Kind verlangt
die einmal vernommene Erzählung mit denselben Wendungen
wieder zu hören; jede Abweichung von diesen wird als Fehler
gerügt. Den faktischen Besitz einer Spielsache betrachtet es als
rechtlichen Zustand, daher jede Störung im Besitze als Verletzung.
Bei dem Parallelismus von Ontogenese und Phylogenese ist der
Schluß gerechtfertigt, daß historisch die ersten Vorstellungen
vom Normativen sich ın ähnlicher Weise unmittelbar aus dem
Faktischen entwickelt haben.
Welche normative Kraft der Mode, der gesellschaftlichen
Sitte, den Anstandsvorschriften zukommt, braucht nicht näher
ausgeführt zu werden. Wird einmal eine Mode eingeführt, so
erhebt sie sofort Anspruch, als normativ anerkannt zu werden.
Selbst das Sittliche beurteilen wir oft nicht nach allgemeinen
Prinzipien, sondern stets nach dem, was tatsächlich als solches
bei einem bestimmten Volke oder innerhalb eines bestimmten
Gesellschaftskreises angesehen wird, wie jeder, der auch nur ein
wenig in der Welt sich umgesehen und die weitgehenden lokalen,
nalıonalen und sozialen Differenzen hierin beobachtet hat, ge-
nügend aus eigener Erfahrung weiß.
Den Grund der normativen Kraft des Faktischen in seiner
bewußten oder unbewußten Vernünftigkeit zu suchen, wäre ganz
verkehrt. Das Tatsächliche kann später rationalisiert werden,
seine normative Bedeutung liegt aber in der weiter nicht ab-
leitbaren Eigenschaft unserer Natur, kraft welcher das bereits
Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar ist
als das Neue.
Für die Einsicht in die Entwicklung von Recht und Sittlich-
keit ist die Erkenntnis der normativen Kraft des Faktischen von
der höchsten Bedeutung. Die Befehle priesterlicher und staat-
licher Autoritäten werden zunächst, sei es aus Furcht, sei es
aus einem anderen Motive, befolgt, und daraus entwickelt sich
die Vorstellung, daß der oftmals wiederholte Befehl selbst, los-