Full text: Allgemeine Staatslehre

Elftes Kapitel. Staat und Recht, 339 
gelöst von seiner Quelle, kraft sciner inneren verpflichtenden 
Kraft eine schlechthin zu befolgende, also sittliche Norm sei. 
Alle imperative religiöse Moral begründet ihre Sätze damit, daß 
sie faktischer Willensinhalt einer schlechthin anzuerkennenden 
Autorität sei. „Denn ich bin der Herr, euer Gott,‘ lautet die 
Motivierung der altjüdischen Ethik. Die ältesten religiösen For- 
mulierungen ethischer Sätze werden stets in absoluter Form aus- 
gedrückt; sie werden zwar mit Sanktionen, aber nicht mit 
Motiven versehen; ihr Rechtfertigungsgruud liegt-in ihrem Dasein. 
Noch schärfer tritt aber das Verhältnis des Faktischen zunı 
Normativen in der Entstehung des Rechtes hervor. Alles Recht 
in einem Volke ist ursprünglich nichts als faktische Übung. Die 
fortdauernde Übung erzeugt die Vorstellung des Normmäßigen 
dieser Übung, und es erscheint damit die Norm selbst als autori- 
täres Gebot des Gemeinwesens, also als Rechtsnorm. Dadurch 
erhält auch das Problem des Gewohnheitsrechtes seine Lösung. 
Das Gewohnheitsrecht entspringt nicht dem Volksgeiste, der es 
sanktioniert, nicht der Gesamtüberzeugung, daß etwas kraft seiner 
inneren Notwendigkeit Recht sei, nicht einem stillschweigenden 
Willensakt des Volkes, sondern es entsteht aus der allgemeinen 
psvchischen Eigenschaft, welche das sich stets wiederholende 
Faktische als das Normative ansieht; der Ursprung der verbinden- 
den Kraft des Gewohnheitsrechtes fällt ganz zusammen mit dem 
der verbindenden Krait des Zeremoniells oder der Modet). 
Aber nicht nur für die Entstehung, auch für das Dasein 
der Rechtsordnung gibt die Einsicht in die normative Kraft des 
Faktischen erst das rechte Verständnis. Weil das Faktische 
  
1) Mit vollem Recht bemerkt Zitelmann, Gewohnheitsrecht und 
Irrtum, Archiv für ziv. Praxis 1883 S.459: „Die ewige Rechtfertigung 
der Geltung des Gewohnheitsrechtes liegt vielmehr nur in jener eigen- 
tümlichen psychologischen Erscheinung, daß ein normal denkender Mensch 
die Vorstellung, daß eine rechtliche Ordnung gelte, dann erzeugt, wenn 
er das längere tatsächliche Herrschen dieses Satzes beobachtet und 
erwartet, daß dieses tatsächliche Herrschen auch noch länger andauern 
werde.“ Eingehendere Untersuchung des Problems des Gewohnheits- 
rechtes, namentlich der bedeutsamen Frage, wieso seine Normen als 
autorıtärer Wille erscheinen, liegt außerhalb des Rahmens dieses Werkes. 
Über die dem Gewohnheitsrecht vorangehenden tatsächlichen Regeln, 
die von ihm so benannten Konventionalregeln, Hatschek im Jahrb. 
d.ö.R. III 1909 S.1ff., 34ff. Dazu W.Jellinek Gesetz, Gesetzes- 
anwendung S. 25, 96, 174, 187. 
22”
	        
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