Elftes Kapitel. Staat und Recht. 343
kenntnis hat, daß das Recht, wie alle sozialen Erscheinungen,
In uns, nicht außer uns seinen Sitz hat, wird darin nichts Ver-
wunderliches finden. Daher kann die einer späteren Zeit noch
so unbillig scheinende Machtverteilung in einem Gemeinwesen,
die Ausbeutung abhängiger Klassen durch die herrschenden in
vollem Maße Rechtscharakter gewinnen nicht nur in dem Sinne,
daß sie von der Macht geboten, sondern auch dadurch, daß sie
von dem Unterworfenen anerkannt wird. Daher hat auch der
altägyptische oder altpersische Despotismus für die von ihm Be-
herrschten zweifellos Rechtscharakter gehabt, und nicht nur un-
historisches, auch unjuristisches Denken ist es, das derartige
Staatenbildungen mit dem Maßstabe späterer Rechtsanschauungen
messen will.
Hinzutreten zu der Überzeugung von dem Faktischen als
dem Normativen müssen sodann, um den Rechtsbegriff zu voll-
enden, Garantien des also in den Machtverhältnissen ausgeprägten
Rechtes. Diese liegen vor allem in ihnen selbst; solange sie un-
verändert sind, garantieren sie durch ihr eigenes Dasein die ihnen
entsprechende Rechtsordnung. Dazu kommen 'die Garantien,
welche in der Gestaltung der staatlichen Institutionen liegen!?).
Machtverteilung an verschiedene Organe und Machtkonzentration
in einem Organ, eine abhängige Beamtenschaft und unabhängige
Staatsämter, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung,
ausschließliche Staats- oder ausgedehnte Selbstverwaltung, ein
großes stehendes Heer oder schwache Milizen, Unverantwortlich-
keit oder Verantwortlichkeit der höchsten Beamten, Ausdehnung
oder Einschränkung der Rechtsprechung haben alle auch die
Funktion, die bestehende Staatsordnung in ihrer eigentümlichen
Ausgestaltung zu garantieren und damit ihren Charakter als einer
Rechtsordnung auszuprägen. Hinzu tritt dem einzelnen gegenüber
die staatliche Zwangsgewalt, die nicht alle, aber einen großen
Teil der Normen des öffentlichen Rechtes zu garantieren vermag.
Alle diese Garantien, so stark sie auch zu wirken vermögen, sind
selbstverständlich nicht absoluter Natur, weil Derartiges in mensch-
lichen Dingen überhaupt nicht vorkommt. Den rechtsändernden
historischen Mächten gegenüber ist, wie bereits dargetan, das
Recht selbst ohnmächtig. Das gilt aber für alle Arten von Recht,
nicht etwa nur für das Staatsrecht.
Der hier entwickelte Gedanke erklärt die entgegengesetzten
1) Vgl. Kap. XXI.