346 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
des Naturrechtes, gehandelt, und diese naturrechtliche Anschauung
hat, als vermeintlich dem positiven Recht entsprungen, unmittelbar
auf die Ausgestaltung des Territorialstaatsrechts eingewirkt. Durch
sie wurde zuerst die Überzeugung herrschend, daß die Gewalt
des Landesherrn Staatsgewalt sei, die nur an dem Privatrecht des
einzelnen eine unübersteigbare Schranke habe, die aber stärker
als jedes der Entfaltung der Staatshoheit sich entgegenstellende
Recht sei. Die naturrechtliche Lehre vom Territorium als Staat
hat wesentlich mitgewirkt an der Wandlung der Territorien in
Staaten. In späterer Zeit ist es das „allgemeine konstitutionelle
Staätsrecht‘‘, dem, als aus der Natur des konstitutionellen Staates
fließend, unmittelbare Geltung für jeden Staat zugeschrieben
wird, wodurch stillschweigend in vielen Staaten verschiedene Sätze
dieses konstitutionellen Naturrechtes eingeführt worden sind ?).
1) Ein interessantes Beispiel hierfür bietet das Prinzip der Diskon-
tinuität der Sitzungsperioden im Falle der Schließung der Kammern.
In vielen Verfassungen ist dieses Prinzip gar nicht ausgesprochen — so
in der des Deutschen Reiches und der preußischen, wird aber trotz-
dem als selbstverständlich betrachtet. Vgl. Laband StR. I S.342;
H.Schulze Preuß. Staatsrecht 2. Aufl. I S.362; G.Meyer StR. 8.326
N.1l. Stahl motiviert es, echt naturrechtlich, damit, daß es beruhe
„auf denı allgemeinen europäischen Rechtsbewußtsein und der euro-
päischen Gewöhnung, daß mit der Schließung der Kammern alle ihre nichi
völlig beendeten Arbeiten expirieren“ (Schulze I. c.). Die öster-
reichische Verfassung (vgl. Abgeändertes Staatsgrundgesetz über die
Reichsvertretung v. 21. Dez. 1867 819) kennt ausdrücklich nur das Institut
der Vertagung des Reichsrates und der Auflösung des Abgeordneten-
hauses, nichtsdestoweniger besteht in Österreich genau dieselbe Praxis
wie ın den Staaten, die das Institut der Schließung formuliert haben,
wie denn auch ın mehreren österreichischen Gesetzen die SchlieBung mit
den herkömmlichen Wirkungen genannt oder vorausgesetzt wird. In
Frankreich und Luxemburg aber hat der Sessionsschluß keineswegs
die „dem europäischen Rechtsbewußtsein“ entsprechende Wirkung
(Lebon Das Staatsrecht der französischen Republik 1886 S.61; Das
Verfassungsrecht d. fr. Rep. 1909 S.122; Eyschen Das Staatsrecht des
Großherzogtums Luxemburg, 1910 S.57), in den Niederlanden ist die
Praxis schwankend (de Hartog Das Staatsrecht des Königreichs der
Niederlande im HB. des öff.R. S. 33). Sehr interessant wäre es, alles,
was in einem Staate ungeschrieben als konstitutionell oder parlamen-
tarisclı geboten gilt, auf seine Herkunft zu prüfen. Sicherlich würde in
vielen Punkten weder die englische Praxis noch die französische auf
Grund der Charte, sondern die Theorien Benthams (woraufllatschek,
Engl. Staatsr. I] S.432ff.,, eingehend verwiesen) und Benjamin Con-
stants und seiner Nachfolger als Quelle erscheinen.