352 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
schen entsprechen, ohne daß er damit irgend etwas über den
objektiven Wahrheitsgehalt der religiösen Vorstellungen aus-
sagen will.
Alles Recht ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß
wir die Fähigkeit haben, uns durch Anforderungen an unseren
Willen, deren Inhalt subjektivem Gutdünken entrückt ist, ver-
pflichtet zu halten. Wesen, denen solche psvchisch-ethische
Qualität mangelte, stünden notwendig jenseits von Recht und Un-
recht. Diese Eigenschaft äußert sich aber im Menschen un-
abhängig von allen abstrakten Vorstellungen einer positiven
Rechtsordnung, ja, bevor das Bewußtsein einer solchen überhaupt
möglich ist. Deutlich läßt sich das an der Entwicklung der
kindlichen Vorstellungen vom Rechte studieren, indem das Kind
ın frühem Alter bereits, in der Regel lange bevor es sprechen
kann, Züchtigungen von Angriffen anderer Art, etwa durch gleich-
alterige Kinder, wohl zu unterscheiden vermag und auf beide in
verschiedener Art reagiert, die Züchtigung als Strafe, anders-
gearteten Angriff jedoch als Unrecht empfindet, sich gegen ıhn
daher zur Wehr setzt oder über ihn eine dem Anlaß gewöhnlich
nicht angemessene starke Kränkung zur Schau trägt. Der ver-
letzende Angriff selbst bringt unreflektiert in der kindlichen Seele
die Vorstellung des Nicht-seinsollenden und damit des Unrecht-
mäßigen hervor. Müßiger Wortstreit wäre es, wenn man diese
primitiven Vorstellungen als für das Recht im juristischen Sinne
unerheblich bezeichnen wollte, denn alle Normen haben die
gleiche Wurzel, und alle Differenzierung innerhalb der Normen
ist Ergebnis höherer Entwicklung.
Mit großer Sicherheit aber ist auch in diesem wie in so vielen
anderen Punkten der Schluß von der ontogenetischen auf die
phylogenetische Entwicklung zu ziehen. Jene psychisch-ethische
Eigenschaft der Verpflichtbarkeit des Willens durch Normen hat
sicherlich schon in primitiven Zuständen nicht nur passive, son-
dern auch aktive Bedeutung gehabt, d. h. sie hat die Vorstellung
von Normen produziert, deren Gewißheit dem naiven Bewußtsein
so einleuchtend ist, daß jedes Forschen nach einer Quelle, die
außerhalb der Psyche des sich durch sie berechtigt oder ver-
pflichtet Glaubenden liegt, entweder als überflüssig betrachtet
oder diese Quelle durch theologische und metaphysische Speku-
lalıon imaginiert wird. Die Vorstellungen eines natürlichen objek-
tiven Rechtes sind daher eine Begleiterscheinung der psycholo-