Full text: Allgemeine Staatslehre

Elftes Kapitel. Staat und Recht. 355 
einer rationalen, scheinbar von der Vernunft unmittelbar erzeugten 
sozialen Einrichtung an. ' 
Solche Rationalisierung wird aber auch der staatlichen Ord- 
nung zuteil. Sieht man von der kleinen Minderzahl ab, die 
ernstlich den Staat verwerfen, so erscheint den Menschen der 
Staat und seine Ordnung als vernünftig. Die Tatsache, daß die 
Schicksale der Völker seit Menschengedenken unabtrennbar mit 
dem Staate verknüpft sind, hat die Überzeugung von den un- 
ersetzlichen Leistungen des Staates hervorgerufen und läßt ihn 
damit als vernünftig und deshalb als zu Recht bestehend erscheinen. 
Dem Historiker erscheint der Schluß von dem Sein des Staates 
auf seine Vernünftigkeit so selbstverständlich, daß er sich des 
dieser Vernünftigkeit zugrunde liegenden psychologischen Tat- 
bestandes gar nicht bewußt zu werden pflegt. 
So wenig aber das konservative Element der Rechtsbildung 
für sich allein die ununterbrochene Rechtsentwicklung zu garan- 
lieren vermag, so ist anderseits da, wo im Denken der Menschen 
ausschließlich das rationale Element hervortritt und jede Ver- 
bindung mit dem konservativ-historischen ablehnt, die Kontinuität 
der Entwicklung auf das höchste gefährdet. Mit der gänzlichen 
Verwerfung des Historischen sind alle bestehenden Institutionen 
vernichtender subjektiver Kritik preisgegeben. Das Extrem dieser 
Richtung ist der Anarchismus, insofern er den Staat ausschließ- 
lich an einem einseitigen rationalen Ideale prüft und demgemäß 
verwirft. Indes ist sowohl das einseitig historische als das ein- 
seitig rationale Denken, sowie die Auffassung des Staates als 
brutaler, rechtloser Macht doch nur auf enge Kreise oder enge 
Zeiträume beschränkt, so daß im Gesamtbewußtsein der Völker 
der Staat nicht nur als faktische, sondern auch als rechtliche 
und vernünftige Macht erscheint. Damit ist auch die Überzeu- 
gung begründet, daß die Staatsordnung selbst Rechtsordnung 
sei. Und da die Überzeugung, daß etwas, das solchen Anspruch 
erhebt, Recht sei, die letzte Quelle des Rechtes selbst ist, so 
ıst damit der Rechischarakter des öffentlichen Rechtes unwider- 
leglıch dargetan. 
Aus dem Dargelegten ergibt sich aber auch die Erkenntnis, 
daß zwischen den realen Vorgängen des staatlichen Lebens und 
den staatsrechtlichen Normen ein Unterschied obwaltet. Alles 
Recht ist Beurteilungsnorm und daher niemals mit den von ihm 
zu beurteilenden Verhältnissen zusammenfallend. Das ıst nament- 
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