356 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
lich nach zwei Richtungen hin von großer Bedeutung. Die eine
haben wir bereits festgestellt. Im staatlichen Leben gehen die
faktischen Verhältnisse den von ihnen erzeugten Normen stets
voraus. Es sind daher im Bildungsprozesse der Staaten oder bei
gewaltsamen Umwälzungen im Staatsieben Epochen vorhanden,
in denen die Staatsordnung zuvörderst als rein tatsächliche Macht
erscheint, die erst, wenn sie historisch geworden oder im Denken
der Menschen rationalisiert wird, den Charakter rechtlicher Macht
annimmt. Sodann aber reicht das Recht niemals so weit, um
tiefgehende Machtkonflikte innerhalb des Staates zu lösen. Denn
es ist nichts als eine höchst verwerfliche, anderen Rechtsparteien
entlehnte Analogie, wenn man auch das System des öffentlichen
Rechtes als ein in sich geschlossenes Ganzes auffaßt und dem-
gemäß für jeden Fall aus ihm eine Entscheidung finden zu
können vermeint!). Das Dogma von der Geschlossenheit des
Rechtssystemes gilt nur für jene Teile der Rechtsordnung, in
denen dem Richter die letzte Entscheidung des Einzelfalles zu-
steht?). Aber auch hier kann die Geschlossenheit nur dadurch
erreicht werden, daß man den Richter verpflichtet, durch schöpfe-
1) Vgl. G.Jellinek Gesetz und Verordnung S. 297; derselbe Ver-
fassungsänderung und Verfassungswandlung 1906 S. 43ff. An der Lücken-
losigkeit des Rechtssystems hält weiter fest Laband, IV S.537, ferner
Bergbohm, Jur. u. Rechtsph. S.372ff.; Bornhak, Preuß. Staats-
recht III S.598. Mit mir prinzipiell übereinstimmend Brie, Zur Theorie
des konstitutionellen Staatsrechts, Arch. f. öff. Recht IV S.32. Vgl. ferneı
Zitelmann Lücken im Recht 1903 S. 27ff.; Anschütz Lücken in den
Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, Verw.Arch. XIV 1906 S.3i15ff.;
Zorn in v. Roenne-Zorn, StR. d. preuß. Monarchie II 1906 S.744;
E. Kaufmann Das Wesen des Völkerrechts 1911 S. 52, und besonders
die höchst interessanten Ausführungen von Hatschek, Engl. Staats-
recht I S.153ff. u. Jahrb. d.ö.R. III 1909 S. 37ff., die allerdings, soweit
H. den Einfluß Benthams auf die Kodifikationen des Rechts behauptet,
von Lukas mit überzeugenden Gründen bekämpft werden: Zur Lehre
vom Willen des Gesetzgebers (Festgabe für Laband I 1908) S. 420ff.
Dazu der Schriftenwechsel zwischen Hatschek und Lukas im Arch.
f. öff. R. 24. Bd. S. 442£f., 26. Bd. S. 67 ff., 458 ff., 465f£., ferner Spiegel,
Gesetz und Recht 1913 S. 9Y0ff., auch S. 120£.
2) Gegen die Geschlossenheit des Rechtssystems E. Jung, Von der
logischen Geschlossenheit des Rechts, Gießener Festgabe für Dernburg
1900 S. 131ff.; derselbe Positives Recht, Festschrift für die juristische
„Fakultät in Gießen 1907 S.469ff.; dersetbe Das Problem des natür-
lichen Rechts 1912; dazu v.Laun im Arch. d.ö.R. XXX 1913 S. 369 ff. —
Über die Bedeutung dieser Lückenlosigkeit W. Jellinek Gesetz, Gesetzes-
anwendung usw. 1913 S. 176£.; dort S.2 N. 7 auch weitere Angaben.