Elftes Kapitel. Staat und Recht. 301
rische Tätigkeit die Rechtsordnung dort zu ergänzen, wo alle
Mittel der Interpretation nicht ausreichen, um einen Fall unter
bereits vorhandene Rechtsregeln zu subsumieren. Immerhin ist
eine, auf welchem Wege ımmer zu findende, Entscheidungs-
norm stets soweit vorhanden, als der Richter verpflichtet ist,
über jeden an ihn gebrachten Fall zu judizieren. Aber eine
ähnliche Bestimmung, wie sie der Code civil für den Richter
ausdrücklich formuliert hatt), ist für die schwierigsten Konflikte
des öffentlichen Rechtes gar nicht möglich. Nur soweit ‚sich
Staat und Individuum gegenüberstehen, oder es sich um Ab-
srenzung von Zuständigkeiten verschiedener Staatsorgane handelt,
kann richterlicher Ausspruch entscheiden, nicht aber wenn Zu-
ständigkeiten der obersten Staatsorgane verfassungsmäßig gar
nicht vorgesehen sind, oder diese Organe sich weigern, die
ihnen obliegenden Funktionen zu vollziehen, oder dies aus einem
anderen Grunde unterlassen. Da gilt vielmehr der Satz: Summa
sedes a nemine iudicatur. Und selbst wenn der Richter da
wäre, so mangelte doch jede Möglichkeit, seinem Spruch ın dem
Falle Geltung zu verschaffen, wenn das von ihm betroffene
unmittelbare Organ die ihm auferlegte Leistung unerfüllt ließe.
Der Präsident der französischen Republik wird mit absoluter
Mehrheit der zur Nationalversammlung vereinigten beiden Kam-
mern gewählt. Bei der zweiten Wahl Grevys zum Präsidenten
wollten die Monarchisten in verfassungswidriger Weise die Wahl-
handlung verhindern?). Wie nun, wenn die Mehrheit der National-
versammlung, zu der ihr Vorsitzender zählte, mit dem Antrage,
die Wahl zu unterlassen, einverstanden -wäre und demgemäß
sich weigerte, die Präsidentenwahl vorzunehmen ? Irgendeinen
neuen Verfassungsrechtssatz zu beschließen, wäre die National-
versammlung rechtlich nicht in der Lage; dazu wäre eine von
beiden Kammern getrennt zu beschließende und hierauf von
der Majorität sämtlicher Kammermitglieder in der National-
versammlung zu sanktionierende Verfassungsrevision notwendig).
Man nehme weiter an, das bis zur Wiederwahl eines Präsidenten
1!) Art.4. Le juge qui refusera de juger sous pretexte du silence,
de l’obscurit@ ou de l’insuffisance de la loi, pourra ätre poursuivi comme
coupable de deni de justice.
2) Schultheß Europ. Geschichtskalender XXVI 1886 S. 312.
%) Loi constitutionelle sur l’organisation des pouvoirs publics vom
25. Februar 1875 Art. 8,