Erstes Kapitel. Die Aufgabe der Staatslehre. 7
seit). Zum Unterschiede von einem großen Teil der Natur-
vorgänge aber sind die sozialen Erscheinungen In der Regel nicht
konstanter Art, vielmehr sind sie dynamischer Natur, sie
ändern fortwährend ihren Charakter, ihre Intensität, ihren Ver-
lauf, ohne daß es möglich wäre, feste, jedem Zweifel entrückte
Entwicklungs- und Rückbildungsgesetze für sie nachzuweisen, wie
es die Naturwissenschaft für (lie Lebensvorgänge zu tun in der
Lage ist. Das Objekt jener Wissenschaften ıst daher in stetem
Wandel begriffen. Eine spekulative Anschauung, die, wenn auch
nur zur hypothetischen Vollendung unseres Wissens, niemals
gänzlich entbehrt werden kann, wird in solchem Wandel eine
aufsteigende Entwicklung behaupten können. Mit den Mitteln
empirischer Forschung hingegen wird in vielen Fällen nur Ände-
rung, nicht Entwicklung nachzuweisen sein. Daß der mittelalter-
liche Staat, verglichen mit dem antiken, eine höhere Entwicklungs-
stufe sel, wie oft behauptet wird, wird schwerlich mit Erfolg
nachgewiesen werden können?). Aber er war etwas wesentlich
anderes als der antike Staat, wies Erscheinungen auf; die nach
keiner Richtung hin in diesem bereits im Keime vorhanden
waren. Die Spaltung des Gemeinwesens durch den im Mittelalter
nie ganz zur Einheit versöhnten Gegensatz von Fürst und Volk,
die ständische Repräsentation, die Forderung einer begrenzten
Sphäre des Staates, das alles waren Phänomene, zu denen in den
2) Vgl. die vielberufenen Sätze von G.Kirchhoff Vorlesungen
über mathematische Physik. Mechanik 1874 S.1. Vollkommene Be-
schreibung eines Einzeldinges oder einmaligen Geschehens setzt die
Kenntnis des ganzen Weltzusammenhangs voraus, bleibt daher stets ein
unerreichbares Ideal. Auch nur ein einziges Exemplar einer Tiergattung
erschöpfend zu beschreiben, erforderte die Einsicht in die Gesetze der
Zeugung, des Wachstums, des Blutumlaufs und sämtlicher mechanischer
und physischer Gesetze, welche jene verwickelten Erscheinungen be-
herrschen. Anderseits ist es unmöglich, ohne genaue Kenntnis des
Individuellen zur Erkenntnis des allgemein Gesetzmäßigen zu gelangen.
Darum bedeuten die Einteilungen der Wissenschaften in beschreibende
und erklärende sowie die neueren in idiographische und nomothetische,
in Kultur- und Naturwissenschaft, um mit Windelband zu reden,
„Grenzbegriffe, zwischen denen die lebendige Arbeit der einzelnen
Disziplinen mit zahlreichen feinsten Abstufungen sich in der Mitte be-
wegt" (Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. 1907 S. 199).
2) Vgl. die treffenden Ausführungen von Ed.Mever Die wirt-
schaftliche Entwicklung des Altertums 1895 S.6; Die Sklaverei im Alter-
tum 1898 S.5fX. (Kleine Schriften 1910 S. 89, 172 £f.).