Elites Kapitel. Staat und Recht. 365
setzt nämlich den entwickelten Staatsbegriff als selbstverständlich
voraus und verwirrt damit das Problem selbst. Denn verstehl
man unter Staat das politische Gemeinwesen der modernen Völker,
so hat es vor diesem zweifellos ein Recht gegeben. Faßt ınan
aber den Staat dynamisch auf und definiert ihn als den höchsten
hertschaftlichen Verband, den eine Epoche kennt, so lautet die
Antwort ganz anders.
Das eine ist über jeden Streit erhaben, daß das Recht
ausschließlich eine soziale Funktion ist, daher die menschliche
Gemeinschaft zur Voraussetzung hat. Selbst das Naturrecht, das
vom isolierten Menschen ausging, läßt das Recht erst in einer
Mehrheit von Menschen entstehen. Das Recht setzt ferner, weil
eine durchaus unorganische Gemeinschaft historisch nicht ge-
geben ist, Gesellschaftsgruppen voraus, die, wenn auch noch so
lose, organisiert sind. Eine jede organisierte weltliche Gemein-
schaft aber, die keinen Verband über sich hat, ist Staat. Dieses
Merkmal ıst das einzige, welches die frühesten Anfänge der
politischen Entwicklung mit den ausgebildeten souveränen Staaten
der Gegenwart verbindet. Ein solches embryonales Staatsgebilde
hat aber niemals gemangelt und mangelt auch heute nicht selbst
bei Völkern mit minimalstem sozialen Leben. Wie immer die
Urformen des menschlichen Gemeindaseins beschaffen gewesen
sein mögen, jedenfalls ıst ein völlig atomistisches Nebeneinander-
bestehen der Menschen vorgeschichtlich und geschichtlich nicht
nachzuweisen. In dem so entwickelten Sinne hat es daher nie-
mals ein Recht vor dem Staate gegeben. Die primitiven Organi-
horchen, kann ich mit gutem Gewissen die Gehorsamspflicht des Untertans
einem konkreten Staate gegenüber bejahen. Wäre jener oberste Satz
aller Rechtsordnungen ein Rechtssatz, so wäre den Anhängern der
Priorität des Rechtes beizupflichten. In Wirklichkeit ist jener jedem
menschlichen Willen entrückte Satz nur die logische Form der Erklärung
des geltenden Rechtes. Staatsrechtlicher Rechtssatz ist erst der Befehl:
wenn dieser konkrete Machthaber M befiehlt, sollst du ihm gehorchen! —
und diesen Rechtssatz gibt es erst, wenn ein einzelner oder eine Gruppe
da ist, die sich wirklich im Besitze der Macht befindet, m. a.W. sobald
eben ein Gemeinwesen sich zum Staate verdichtet hat. Die Entstehung
eines Staates hat also die ‚Entstehung eines Gehorsam fordernden Rechts-
satzes zur unmittelbaren Folge; die Staatsschöpfung geht aber, wie jede
Ursache, der Wirkung zeitlich voraus, man müßte denn mit Sigwart,
Logik II18 73 Ziff. 14 ff. (4. Aufl. S. 154f.), Gleichzeitigkeit von Ursache und
Wirkung annehmen. — Näheres bei W.Jellinek Gesetz, - Gesetzes-
anwendung usw. 1913 S.27£f., 130£.