Full text: Allgemeine Staatslehre

Elftes Kapitel. Staat und Recht. 375 
Verläßt man daher den rein formal-juristischen Standpunkt, 
auf dem mit der Hilfsvorstellung einer schlechthin allmächtigen 
und unfehlbaren Staatsgewalt operiert wird, so ergibt sich eine 
Scheidung alles Rechtes in konstante oder doch nur sehr langsam 
umzubildende und variable Bestandteile. Diese Konstanten sind 
aber in dieser Eigenschaft gemäß der ganzen Kulturlage eines 
Volkes ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt und bilden 
damit einen rechtlichen Maßstab für die Beurteilung auch der 
formal unanfechtbaren Staatswillensakte. Daher kann ein Gesetz 
oder ein rechtskräftiger irrevisibler Richterspruch als unrecht, 
nicht nur als ungerecht gewertet werden. Ferner ist damit auch 
eine Richtschnur de lege ferenda gegeben, wie denn heute jene 
Schulansicht von der schlechthin ungebundenen gesetzgebenden 
Gewalt trotz der Überzeugung weitestgehender legislatorischer 
Freiheit bei den gesetzgeberischen Faktoren selbst sicherlich nicht 
vorhanden ist. Endlich ist damit überhaupt erst die Möglichkeit 
staatlicher Pflichten begründet, eine Vorstellung, die von der 
noch immer fortwirkenden absolutistischen Staatsauffassung aus, 
will man konsequent sein, energisch zurückgewiesen werden muß. 
4. Der Staat und das Völkerrecht. 
Die für die ganze Auffassung des modernen Staates grund- 
legende Anschauung von seinem Verhältnis zum Rechte wird 
vollendet durch die Lösung des Problems, welches das jüngste 
Glied der Rechtsordnung, das Völkerrecht, der Erkenntnis dar- 
bietet. 
Die Staaten der altorientalischen und antiken Welt haben 
trotz mancher, namentlich durch die Bedürfnisse des internatio- 
nalen Verkehrs hervorgerufenen Ansätze es nie zu einem Völker- 
recht gebracht, wenn auch Wort und Begriff den Römern geläufig 
waren. Schon indem von der antiken Staatslehre dem Staate, 
zuerst von den größten hellenischen Denkern, Autarkie zuge- 
schrieben und sodann in der stoischen, von den Römern bereit- 
willig angenommenen Lehre der Weltstaat als die dem Staats- 
begriffe entsprechende Verwirklichung behauptet wird, kann die 
Möglichkeit einer Rechtsordnung für die Staaten selbst der alten 
Welt nicht zum Bewußtsein kommen. Erst in der durch eine 
Fülle von Kulturelementen miteinander verbundenen christlichen 
Staatenwelt, die im Mittelalter zur Einheit der Kirche zusammen-
	        
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