378 Zweites Buch, Allgemeine Soziallehre des Staates.
Die Lücken jedoch, die bereits das Staatsrecht aufgewiesen
hat, sind dem Völkerrechte in noch viel größerem Umfange zu
eigen, weil das System des Völkerrechtes noch viel weniger
der Geschlossenheit fähig ist als das des Staatsrechtes. \Venn
jedes Rechtsgebiet Teile hat, die auf Kompromissen streitender
Mächte beruhen, so hat gerade die Fortbildung des Völkerrechtes
zur Voraussetzung die Möglichkeit eines Widerstreites der Staaten,
als dessen Resultat neues Recht erscheint. Die durch Rechts-
sätze nur in geringem Maße einschränkbare auswärtige Politik
bezeichnet das weite Gebiet, auf dem die faktische Macht ent-
scheidet und die Interessen der verschiedenen Staaten Kämpfe
aller Art, nicht etwa bloß kriegerische, führen, miteinander
Waffenstillstände eingehen, untereinander sich auf kürzere oder
längere Dauer verbinden. Aber nicht nur die wechseinden Inter-
essen des Tages, auch die Entwicklungsbedingungen der Staaten
und Völker verlangen es, daß dem Kampfe neuer Ideen und
neuer politischer Gestaltungen um Verwirklichung und Dasein
Raum gelassen werde. Eine lückenlose, jeden Streit durch be-
reitstehende Rechtsregeln entscheidende zwischen- oder gar
überstaatliche Ordnung würde bei der heutigen Weltlage und
in absehbaren Zeiten das Ungesunde, das Veraltete und Überlebte
in der Staatenwelt konservieren und damit jeden gedeihlichen
Fortschritt unmöglich machen. Man denke nur an die großen
Kriege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wären diese
geschichtlichen Kämpfe, für deren Beurteilung kein Rechtssatz
vorhanden war, durch irgendeine Rechtsnorm und irgendeinen
Richter zu schlichten gewesen, so hätte der Spruch nur zugunsten
des Bestehenden als des Rechtmäßigen ausfallen können, und
Deutschland und Italien wären geographische Begriffe geblieben,
die neuen Staaten der Balkanhalbinsel wären weiterhin türkische
Provinzen, die spanische Mißwirtschaft auf Kuba und den Phi-
lippinen wäre erhalten geblieben!!)
Wenn nun aber auch das Völkerrecht formell auf dem Willen
der Einzelstaaten ruht und von ihm seine rechtliche Sanktion
erhält, so entspricht es doch materiell einem Etwas, das über
nächst sein Dasein eingehender begründen. Vgl. gegen Triepel auch die
kritischen Ausführungen von E.Kaufmann Das Wesen des Völker-
rechts usw. 1911 S. 168, 160ff., ferner unten S. 479 N. 1.
1) Vgl. auch G.Jellinek, Die Zukunft des Krieges (Ausg. Schriften
und Reden II 1911) S. 538 ff.