Erstes Kapitel. Die Aufgabe der Staatslehre. 13
3. Die Politik und ihr Verhältnis zur Staatslehre.
Die angewandte oder praktische Staatswissenschaft ist die
Politik, d. h. die Lehre von der Erreichung bestimmter
staatlicher Zwecke und daher die Betrachtung staatlicher Er-
scheinungen unter bestimmten teleologischen Gesichtspunkten, die
zugleich den kritischen Maßstab für die Beurteilung der staat-
lichen Zustände und Verhältnisse liefern!). Enthält die soziale
Staatslehre wesentlich Erkenntnisurteile, so hat die Politik Wert-
urteile zum Inhalt. In diesem engsten Sinne, der allein der
Politik wissenschaftliche Selbstberechtigung sichern kann, ist sie
erst in neuester Zeit in der deutschen Wissenschaft aufgefaßt
worden, der die endgültige Scheidung jener allumfassenden an-
tiken Kategorie der Politik in soziale Staatslehre, Staatsrechts-
lehre und Politik zu danken ist.
Da absolute Zwecke nur auf dem Wege metaphysischer
Spekulation aufgezeigt werden können, so ist eine empirische, in
1) Über die verschiedenen Definitionen der Politik vgl. v.Holtzen-
dorff Die Prinzipien der Politik 2. Aufl. 1879 S.2ff. Die neuesten Ver-
suche, den Begriff der Politik auszuprägen, bei Schäffle Über den
‚wissenschaftlichen Begriff der Politik, Zeitschr. f. d. ges. Staatswissen-
schaft LIII 1897 S.579f.; Fr. van Calker Politik als Wissenschaft 1898
S.7£.; Richard Schmidt Allgemeine Staatslehre I 1901 S.25ff. und in
der Zeitschr. £. Politik 1 1908 S.1£f.; v. Mayr Begriff und Gliederung usw.
811 S.39£f.; Berolzheimer im Arch. f. Rechts- u. Wirtsch.-Philos. I
1907/08 S.210£.; A.Eleutheropulos Rechtsphilosophie, Soziologie
und Politik 1908 S.31£f.; J.K.Friedrich Kolonialpolitik als Wissen-
schaft 1909; Rehm im Handbuch der Politik I 1912 S.8ff. Bei dem
inneren Zusammenhange alles staatlichen Lebens und seiner Erkenntnis
wird eine scharfe Abgrenzung der Politik gegen die theoretische Staats-
wissenschaft kaum vollständig gelingen. Wer von den Zwecken einer
staatlichen Institution handelt, muß vorerst deren Sein und Betätigung
erkennen. Namentlich die Lehre von dem staatlichen Leben wird daher
ausdrücklich oder stillschweigend der Politik zugewiesen, während sie
doch ihr nur so weit zugehört, als sie dieses Leben im Hinblick auf die
ihm gestellten Zwecke betrachtet. Die Scheidung der beiden Positionen
jedoch, von denen aus die lebendige Bewegung der. staatlichen Er.
scheinungen betrachtet werden kann — der theoretischen und der teleo-
logischen —, ist an dem politischen Einzelproblem praktisch kaum rein-
lich durchzuführen. Daher finden sich in der Regel in jeder eingehenden
politischen Untersuchung Materien, die der theoretischen Staatswissen-
schaft angehören. Hingegen ist es methodisch viel leichter, bei Dar-
stellungen der theoretischen Staatswissenschaft von der Politik abzu-
sehen, da jene die Voraussetzung dieser, nicht aber umgekehrt, bildet.