Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewalt. 437
eine ethische Kategorie, indem sie die Grundbedingung ist, von
welcher die Erfüllung des Staatszweckes, die Hervorbringung des
ed Cr, des vollkommenen Lebens abhängt.
Dieser Begriff wurzelt tief in der hellenischen Welt- und
Lebensanschauung und kann nur aus ihr heraus begriffen werden.
Es ist die antike nö4dıs, welche die sittliche Möglichkeit besitzt,
sich von der übrigen Welt abzuschließen, da sie alles in sich
birgt, was nicht nur des Lebens Notdurft befriedigt, sondern es
auch den Menschen wert und teuer macht. Die Polis bedarf
nicht der barbarischen Welt, ja nicht einmal der griechischen
Schwesterstädte, um ihre Aufgabe zu erfüllen. In keiner Weise
aber gibt der Begriff der Autarkie Auskunft über die freie Be-
stimmung des Staates über sein Tun und Lassen, über sein
Recht und seine Verwaltung, über seine innere und äußere Politik.
Das wird uns klar, wenn wir die Fassung dieses Begriffes bei
den Kynikern und später in der Stoa verfolgen, wo er zum
wesentlichen Merkmal des idealen Individuums, des Weisen
wird!) Das Höchste, wonach der Kyniker und Stoiker streben
soll, ist die Autarkie, die nur die Tugend gewährt, deren Besitz
ihn von allem Äußeren derart unabhängig 'stellt, daß er die
Möglichkeit rigoroser Erfüllung der ethischen Norm gewinnt.
Daraus haben zwar die Kyniker die Unverbindlichkeit der Staats-
ordnung für den Weisen gefolgert?), die Stoiker hingegen habeıı
keineswegs die äußere, rechtliche Unabhängigkeit vom Staate
gefordert3). Der Stoiker soll am Staatsleben teilnehmen; nur
wenn er durch äußere Mächte gehindert wird, das höchste Ziel
zu erreichen, ‘wenn ein äußeres Gebot ihm Unwürdiges zumutet,
kann er sich ihm dadurch entziehen, daß er freiwillig aus dem
Leben scheidet. Der selbstgenügsame Weise der Stoa ist das
1) Beide Schulen erklären übereinstimmend die Autarkie der Tugend
genügend für die Erreichung der Eudämonie. Diog. Laert. VI 11, VII 65.
Über die kynische Autarkie vgl. Kaerst Studien S.29ff. Die stoische
Autarkie zeichnet treffend Hildenbrand Geschichte S. 507 ff.
2) Ob wohl nicht die berühmte Alternative, die Aristoteles für die
stellt, welche sich nicht am Staate beteiligen wegen ihres Unvermögens,
an einer Gemeinschaft teilzunehmen oder wegen ihrer Autarkie: Tier
oder Gott, eine ironische Spitze gegen die Kyniker in sich birgt?
3) Wenn auch der Staat der Stoa keine Bedingung der Eudämonie
ist, so schreibt sie doch anderseits auch ihrem idealen -Weltstaate
Autarkie zu, so daß neben die Selbstgenügsamkeit des Weisen die des
Kosmos tritt. Vgl. Kaerst a.a.0. S. 76.