Full text: Allgemeine Staatslehre

Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewalt.e. 439 
Scheidemünze, die von Hand zu Hand wandert, und bei der man 
schließlich vergißt, zu fragen, ob sie nicht unterdessen außer 
Kurs gesetzt sei. 
Auch in anderen griechischen Lehrsätzen, die von der Natur 
des Staates handeln, ıst von einer Erkenntnis dessen, was der 
moderne Souveränetätsbegriff bezeichnet, nichts zu finden. Wenn 
Aritoteles von dem xvoror, von der obersten Macht im Staate 
spricht, so hat das mit der Theorie, daß die Staatsgewalt not- 
wendig das Merkmal der Souveränetät besitze, nichts zu schaffen !). 
Denn die platte Tatsache, daß im Staate irgendwer befehlen 
und oberste Entscheidungsgewalt haben, also herrschen müsse, 
war bereits vor allem wissenschaftlichen Nachdenken über den 
Staat bekannt. Herrschaft und Souveränetät sind aber, wie im 
folgenden dargetan werden wird, keineswegs dasselbe. Ebenso- 
wenig verbirgt sich aber in den von Grotius zur näheren Be- 
stimmung der Staatsgewalt angezogenen Worten des Thukydides 
über die Delphier: sie seien adrovouovs, adroteieis, abtodizovg?), 
die moderne Vorstellung von der Souveränetät; sie besagen viel- 
mehr nur, daß dieses Gemeinwesen eigene Gesetze, eigene Ein- 
nahmequellen, eigene Behörden habe, was zweifellos zu allen 
Zeiten auch bei nichtsouveränen Verbänden der Fall war. 
So wie den Griechen war aber auch den Römern die Vor- 
stellung des souveränen Staates fremd geblieben. Das römische 
Denken war, stets praktisch, auf die gegebene Wirklichkeit ge- 
richtet. Für die lag aber nicht die geringste Veranlassung vor, 
theoretisch den römischen Staat mit irgendwelchen Mächten neben 
und unter ıhm zu vergleichen, um daraus für ıhn ein besonderes 
Merkmal zu gewinnen. Im Gegenteil hätte Anerkennung und 
Betonung der Souveränetät der römischen Politik durchaus wider- 
sprochen, die den Völkern, ‚qui maiestatem populi Romani comiter 
servant‘‘, gern den Schein staatlicher Selbständigkeit ließ. Aus- 
drücke aber wie maiestas, potestas und imperium bezeichnen die 
Größe und Macht des römischen Volkes, die bürgerliche und 
militärische Befehlsgewalt. Sie sagen aber nichts über Inhalt 
und Schranken der staatlichen Macht, über die Unabhängigkeit 
  
1) Vgl. Rehm Geschichte S.95ff., besonders S. 102, wo nachge- 
wiesen wird, daß unter dem xvo:o nicht die höchste rechtliche, sondern 
die höchste soziale Macht zu verstehen sei. 
2) v 18.
	        
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