Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewalt.e +45
der König erkennt keinen Oberherrn über sich an, trägt sein
Reich von niemand zu Lehen. So wird denn der Satz, daß der
König unabhängig sei, zuerst in Frankreich literarisch formuliert).
Aber er bleibt nicht unwidersprochen. Gegen ihn wenden sich
energisch diejenigen, welche jede Abweichung von der offiziellen
mittelalterlichen Theorie zu bekämpfen Anlaß haben. Gerade
gegen Philipp den Schönen, der die Selbständigkeit seiner Krone
gegenüber dem Papste so machtvoll vertritt, richtet Bonifaz VIII.
1303 die strafenden Worte: nec insurgat hic superbia gallicana,
quae dicit quod non recognoscit superiorem: mentiuntur, quia de
Iure sunt et esse debent sub Rege Romano et Imperatore?).
Die publizistische Theorie vermag diesem Vordringen der
Idee staatlicher Unabhängigkeit nur unvollkommen Ausdruck zu
geben. Soweit sie unter der Herrschaft aristotelischer Vor-
stellungen steht, ist sie gänzlich außerstande, den staatlichen
Verband gegen andere zu begrenzen. Die Polis wird in der
mittelalterlichen Staatslehre zur Stadtgemeinde, über die sich
noch regnum und ımperium als höhere staatsgleiche Verbände
erheben). Die Verhältnisse der italienischen Städte geben Anlaß
zur Aufstellung der Kategorie der civitates superiorem non Tre-
cognoscentes, der Freistädte, die keinen Stadtherrn haben. Dieser
Begriff wird sodann von der italienischen Korporationslehre zur
Bezeichnung des unabhängigen stadtstaatlichen Gemeinwesens
überhaupt — unbeschadet der Oberhoheit des römischen Reiches —
verwendet, von den französischen Jurisien aber auch auf die die
Unterordnung unter das Reich nicht anerkennenden regna über-
tragen. Endlich wird im 15. Jahrhundert nur das keinen Superior
anerkennende Gemeinwesen für eine res publica in vollem Sinne
erklärt). Damit ıst der erste Ansatz zu einer neuen Begriffs-
1) „Li rois n’a point de souverain es choses temporiex.“ Etabl. de
Saint Louis II p. 270.
2) Pfeffinger I p.377. Ähnlich in der Bulle vom 30. April 1303,
zitiert bei Leroux a.a.0. p.253 N.3. Zur selben Zeit sagt aber Pierre
Dubois, De recuperatione terrae sanctae, ed. Langlois, 1891, von dem,
der dıe Existenz eines Weltherrschers behauptet, „non est homo sanae
mentis“, p.51.
3) Vgl. Gierke Genossenschaftsrecht III S. 638f.; Althusius S. 229£.
4) Über die civitates superiorem non recognoscentes vgl. Gierke
Genossenschaftsrecht III S.381ff., 639£.; ferner Rehm, Geschichte
S.193£., dessen Ausführungen erst volle Klarheit in den von Gierke
entdeckten Entwicklungsprozeß dieses Begriffes bringen. Hinzuzufügen