18 Iirstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
Ein zweiter wichtiger Grundsatz, den politische Erkenntnis
die Rechtswissenschaft lehrt, besagt, daß die Vermutung für
die Rechtmäßigkeit der Handlungen der obersten
Staatsorgane spricht!). Solange niemand zur Einsprache Be-
rechtigter gegen einen Akt dieser Organe rechtliche Einwendungen
erhebt oder ihn für unwirksam erklärt, müssen sie als recht-
mäßig angesehen werden, selbst wenn eine buchstäbliche Inter-
pretation einer Verfassungsbestimmung zu einem anderen Resultat
führen würde. Es ist daher unangebracht, den Begriff der Be-
aufsichtigung in Art.4 der Reichsverfassung so zu interpretieren,
daß die gesetzliche Zuständigkeit einer großen Zahl von Reichs-
behörden geradezu als verfassungswidrig erscheint?). Ebenso-
wenig ist es zulässig, die Beschlußfassung des deutschen Reichs-
tages als eine Kette von Verfassungswidrigkeiten anzusehen, weil
die Mitglieder bei den Abstimmungen häufig nicht in beschluß-
fähiger Zahl anwesend sind®). Vielmehr gilt der Reichstag als
beschlußfähig, solange nicht das Gegenteil vom Präsidium der
Versammlung ausdrücklich konstatiert worden ist. Die Zulässig-
keit der Stellvertretung des Kaisers im Reiche und des Königs
in Preußen ist trotz theoretischer Bedenken. von keinem hierzu
kompetenten Organe angezweifelt worden®). Die sächsische
Militärkonvention, deren Ungültigkeit von manchen Seiten be-
hauptet wurde, ist tatsächlich in Kraft, da niemand hierzu Be-
rechtigter ihre Geltung bezweifelt). Die theoretische Ungültig-
t) Überhaupt der Staatsorgane; vgl. W.Jellinek Gesetz, Gesetzes-
anwendung usw. S.115 und die Nachweise ebendaselbst.
*) Vgl. die Ausführungen von Haenel Deutsches Staatsrecht I 1892
S. 307 £.
8) Laband I S.348 Note 3. Richtig Rieker Über Begriff und
Methode des allgemeinen Staatsrechts, Vierteljahrsschrift für Staats- u.
Volkswirtschaft IV S.266. Laband zieht denn auch, abgesehen von
der dem Kaiser zugewiesenen Prüfungspflicht (II S. 43), trotz energischen
Protestes gegen die Verfassungswidrigkeit derartiger Beschlüsse nicht
die geringste praktische Konsequenz für deren Gültigkeit.
*) Vgl. G.Meyer Lehrbuch des deutschen Staatsrechtes 6. Aufl.
herausgegeben von Anschütz 1905 S.286 Note 2 und die ‚dort an-
geführte Literatur.
5) Zorn Das Staatsrecht des Deutschen Reiches 2. Aufl. II 1897
3.527f.; Haenel 1 S.492 Note5. Dagegen richtig auf das unbestreitbare
Faktum der Geltung der Konvention hingewiesen von Laband, 4. Aufl.
1901 IV 5.30 Note 1; G.Meyer 8197 Note 4. — Ein weiteres Beispiel