416 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
Die Soureränctätsiehre hat aber noch ein drittes Merkmal
aus dem Charakter der Souveränetät abgeleitet. Sie soll auch
eine unbeschränkte und unbeschränkbare Gewalt schlechthin be-
zeichnen. Sie sei absolut, weil niemand ıhr Schranken auferlegen
könne, auch nicht sie selbst. Selbstbeschränkung ist nach der
naturrechtlichen Theorie, die bei vielen in diesem Punkte auch
heute noch die herrschende ist, mit dem Charakter der Souve-
ränetät unvereinbar. Wenn es daher Schranken für den Staat
gäbe, so seien sie faktischer oder moralischer, niemals aber
rechtlicher Natur!).
Um diesen wichtigen Punkt zu erledigen, muß man vor
allem sich vor Augen halten, daß die Souveränetät ein Rechts-
begriff ist und auch ın der naturrechtlichen Literatur stets als
solcher gedacht wurde. Die Unabhängigkeit der Staatsgewalt von
jeder anderen Autorität wurde immer als rechtliche, nicht
als faktische Unabhängigkeit aufgefaßt. Auch die Absolutisten
wollten die absolute, durch Gesetze nıcht beschränkte Volks- oder
Fürstengewalt als rechtliche Gewalt nachweisen. So läßt
Hobbes durch den staatsgründenden Vertrag die unumschränkte
Rechtsmacht des Herrschers entstehen, so unterwirft Rousseau
das Individuum der unumschränkten Herrschaft der rechts-
schöpfenden volont& generale. Nachzuweisen, daß der Staat reale
Macht sei, erschien dem Naturrecht überflüssig; vielmehr handelte
es sich ihm darum, den Rechtsgrund, die Rechtmäßigkeit der
gegebenen Macht darzutun.
Daher ıst es Verkennung der geschichtlichen Entwicklung
der Souveränetätslehre, wenn man die souveräne Gewalt als über
dem lechte stehend auffaßt. Zu revidieren ist heute die juristi-
sche Eigenart des Rechtsbegriffes der Souveränetät, da die Ver-
werfung der naturrechtlichen Konstruktion eine neue Begründung
gemäß unseren geläuterten Anschauungen vom Rechte notwendig
macht. Dem Naturrecht war die juristische Qualifikation der
Souveränetät leicht, da es von der Idee eines Rechtes vor dem
Staate ausgeht. Unsere Erkenntnis vom Rechte hingegen, welche
dessen Existenz von dem Dasein einer es verwirklichenden Or-
ganisation abhängen läßt, zeigt die Frage, ob die das Recht
verbürgende Organisation unter oder über dem Rechte steht,
als eines der schwierigsten Probleme der gesamten Staats-
lehre.
1, \gl. G.Meyer S.22.,