Erstes Kapitel. Die Aufgabe der Staatslehre. 19
keitserklärung derartiger Verhältnisse sollte ja zu der Erkenntnis
führen, daß das, was man als geltendes Recht behauptet, diesen
Charakter in Wirklichkeit nicht an sich trägt. Jene tatsächliche
unwidersprochene Rechtsübung muß aber schließlich auch für
die Theorie neues Recht erzeugen, und so bilden die angeblichen
theoretischen Verfassungswidrisgkeiten schließlich die Rechts-
ordnung selbst für die von dem politisch Möglichen absehende
Betrachtungsweise um.
So hält denn der stete Hinblick auf die Realität des “poli-
tischen Lebens die staatsrechtliche Theorie von Abirrungen frei.
Anderseits erzeugt politische Erkenntnis fortwährend die Forde-
rung nach neuem Recht. Solche Forderung setzt aber gründliche
Kenntnis des herrschenden Rechtes voraus. Daher hat die Staats-
rechtslehre große Bedeutung für die Politik, die ihre Aufgaben
ohne jene nicht erfüllen kann. Eine Kritik der gegebenen In-
stitute des öffentlichen Rechtes ist eine politische Aufgabe, welche
die Staatsrechtslehre, sowohl die allgemeine und spezielle als die
des Einzelrechtes, zu erfüllen hat. Die Rechtswissenschaft würde
den edleren Teil ihres Berufes gänzlich aufgeben, wenn sie nur
nach rückwärts gewendet wäre und nicht auch nach vorwärts
den Mächten der Zukunft den Weg zu bahnen mithülfet).
4. Kausal- und Normwissenschaft.
Die im vorhergehenden geschilderten einzelnen Zweige der
Staatswissenschaften sind schließlich noch unter einem anderen
Gesichtspunkt zu betrachten. Das ist aber der Unterschied der
kausalen Erkenntnisart von der normativen. Es gibt zwei Arten
von Regeln: solche, die den ursächlichen Zusammenhang der Er-
scheinungen kennen lehren, und sodann diejenigen, welche durch
menschliche Gedanken und Handlungen zu verwirklichen sind,
bei Bazille Das Staats- und Verwaltungsrecht des Königreichs \Vürttem-
berg 1908 S. 222.
1) Über die Aufgaben einer legislativpolitischen Jurisprudenz vgl.
die treffenden Bemerkungen in der Rektoratsrede von A.Menger Über
dıe sozialen Aufgaben der Rechtswissenschaft 1895 S. 18ff. (2. Aufl. 1905
>.19ff.) und in der Antrittsrede von R. Thoma Rechtsstaatsidee und
Verwaltungsrechtswissenschaft (Jahrb. d. ö. R. IV 1910) S. 216. Vgl. auch
die Antrittsrede von R.Smend Maßstäbe des parlamentarischen Wahl-
rechts 1912 S.5ff., 19.
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