Full text: Allgemeine Staatslehre

20 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen. 
Regeln also, welche ein Sein, und solche, welche ein Sein-sollen 
ausdrücken. 
Auch die zweite Gattung, die der Normen, ist, wie die 
erste, sowohl Objekt der Beschreibung als auch der Erklärung, 
Konstaticrung der Normen für das gesellschaftliche Handeln, Ver- 
ständnis ihres inneren Zusammenhangs sowohl untereinander als 
auch’ mit der Gesamtheit der sozialen Kräfte, die sie zum Bewußt- 
sein gebracht haben, ist eine der vornehmsten Aufgaben sozial- 
wissenschaftlicher Forschung. Die wichtigste Gattung der für 
die Staatswissenschaft in Betracht kommenden Normen sind dic 
Rechtsnormen. Die Rechtswissenschaft ist daher eine Wissen- 
schaft nicht der Seinsgesetze, sondern der Normen!). 
Daraus ergibt sich ein wichtiger methodologischer Uhnter- 
schied zwischen sozialer Staatslehre und Staatsrechtslehre. Die 
erstere hat das gegenständliche, historische, wie auch wohl nicht 
ganz zutreffend gesagt wurde, das natürliche Sein des Staates, 
die letztere hingegen die in jenem realen Sein zum Ausdruck 
kommen sollenden Rechtsnormen zum Inhalt. Diese Normen sind 
nicht ohne weiteres Wirkliches, sondern ein durch ununter- 
brochene menschliche Tat zu Verwirklichendes. Mit dieser wich- 
tigen Erkenntnis ist einer Vermischung beider Teile der Staats- 
lehre ein für allemal vorgebeugt. 
Auch die praktische Staatswissenschaft hat Normen zu ihrem 
Inhalt. Die Politik erkennt wie das Recht nicht eiu Sein, sondern 
ein Seinsollendes. Doch ist zwischen den Normen des Rechts 
und denen der Politik ein tiefgreifender Unterschied vorhanden, 
der jede Vermengung beider ausschließt. Die Rechtsnormen 
nämlich sind geltende, d. h. in Kraft stehende Normen, dener 
Garantien ihrer Erfüllung zur Seite stehen. Diese Geltung erhebt 
sıc zu einem Teile des Seienden, so daß sie eine Doppelstellung 
cinnehmen. Das positive Recht unterscheidet sich von irgend- 
welchen anderen Willensnormen dadurch, daß es als reale Macht 
bestimmte berechenbare Wirkungen ausübt. Darum ist das Recht 
dieser Seite nach Gegenstand der Wissenschaft vom Seienden. 
Rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen, sozialpoli- 
sche Kritik der gegebenen Zustände usw. betrachten das Recht 
  
1) Binder, Rechtsnorm und Rechtspflicht 1912 S.47 Note 1, hält 
diese Zuweisung der Rechtswissenschaft zu den Normativwissenschaften 
für „durchaus verfehlt"; über das Bedenkliche der Binderschen Beweis- 
führung W.Jellinek a.a.0. S.22.
	        
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