Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewal. 495
souveränen Staates gewinnt. Er braucht daher auch nach innen
nur durch seine Gesetze mit seinen bereits vorhandenen Organen
eine Kompetenzerweiterung vorzunehmen, um staatsrechtlich alle
Funktionen eines souveränen Staates auszuüben. Durch Ver-
fassungsänderung verwandelt sich daher ein abhängiger Staat
rechtlich in einen souveränen. Derartiges hat in großem Stil
1806 nach Auflösung des Deutschen Reiches stattgefunden, wo
den bisher reichsuntertänigen Landesherren die ihnen nicht zu-
stehenden und sie reichsstaatsrechtlich einschränkenden Befug-
nisse der Reichsgewalt zuwuchsen oder diese gänzlich hinweg-
fielen. Ein bisher nichtstaatliches Gemeinwesen müßte sich aber
überhaupt erst als Staat konstituieren, über seine künftige Staats-
form Beschluß fassen, um solchenfalls den Charakter eines Staates
zu erhalten. So brauchte Bulgarıen nach Wegfall der türkischen
Öberherrschaft einfach nur die Aufbebung der Beschränkungen
seiner bisherigen Stellung verfassungsmäßig feststellen zu lassen,
um sich auf Grund der ihm nun völkerrechtlich zugewachsenen
Macht nach jeder Richtung hin als souveräner Staat darzustellen;
hingegen müßte ein Staatsteil oder ein einem Staate gänzlich
unterworfener Verband, um in ähnlicher Lage selbst souveräner
Staat zu werden, sich überhaupt erst staatlich organisieren,
widrigenfalls er als Anarchie betrachtet werden müßte.
Auch die Grenze zwischen nichtsouveränem und souveränem
Staate läßt sich nunmehr leicht ziehen. Souveränetät ist die
Fähigkeit ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung. Daher
kann nur der souveräne Staat innerhalb der von ihm selbst
gesetzten oder anerkannten Rechtsschranken völlig frei den Inhalt
seiner Zuständigkeit regeln. Der nichtsouveräne Staat hingegen
bestimmt sich ebenfalls frei, soweit seine staatliche Sphäre reicht.
Bestimmbarkeit oder Verpflichtbarkeit durch eigenen Willen ist
das Merkmal einer jeden selbständigen Herrschergewalt. Daher
steht auch dem nichtsouveränen Staate die Rechtsmacht über
seine Kompetenz zu!). Allein diese Macht hat ihre Grenzen an
1) D.h. über die Grenzen seines Imperiums. Dadurch unterscheidet
sich die staatliche Rechtsmacht über die eigene Kompetenz von der
der nichtstaatlichen Gemeinwesen, die zwar die Richtung der ıhnen
zustehenden Gewalt auf bestimmte Objekte ändern, aber nicht diese
Gewalt selbst aus eigener Macht mehren können. Auf Mißverständnis
des Problems beruhen die polemischen Ausführungen von Combo-
thecra, La conception juridique de l’Etat p. 106f., der jedem Indivi-
duum dieselbe Selbstbestimmung wie dem Staate beilegen will.