499 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
Die praktische Spitze dieser Lehre ist gegen den, nunmehr
gänzlich zu überwindenden, staatlichen Dualismus gerichtet. Ver-
nichtung ständischer Macht, kommunaler Freiheit, grundherr-
licher Selbständigkeit, kurz: aller der Staatsgewalt gegenüber
eigenberechtigter Gewalten, wird durch sie gerechtfertigt. Wider-
standslose Unterwerfung des einzelnen unter den allgemeinen
Willen, der kein wie immer geartetes Sonderrecht gegenüber seinen
souveränen Beschlüssen kennt, ıst die Tendenz der Lehre Rous-
seaus, bei dem der absolute Herrscher den Namen, aber nicht
das Wesen gewechselt hat.
Gaben die kontinentalen Verhältnisse zu erheblichen Wider-
sprüchen gegen diese Lehre keinen Anlaß, so konnte sie ın
England nur mit Modifikationen Eingang finden. Die konstitu-
tionelle englische Theorie legt zwar das Schwergewicht der
Staatsgewalt in die Hände des Volkes, doch ist nach Locke
auch der König „in a very tolerable sense‘ als höchste Macht
zu bezeichnen!),, wenn auch die Legislative in Wahrheit
die höchste Gewalt innehat. Die offizielle englische Lehre hin-
gegen, wie sie schließlich ın Blackstone ıhren klassischen
Ausdruck gefunden hat?), faßt König und beide Häuser zur Ein-
heit des Parlaments zusammen, dem die höchste Gewalt zuge-
schrieben wird. Doch wird hinwieder auch der König alleın
als Inhaber der Souveränetät bezeichnet?).
Diese offiziellen englischen Anschauungen bildet Montes-
quieu zu seiner Lehre von den drei getrennten, einander 'gleich-
gestellten, sich gegenseitig balancierenden Gewalten um, die zwar
Berührungspunkte miteinander haben, im Wesen aber vonein-
ander unabhängig sind). Er begründet seine Theorie nicht
2) On Govern. II 151.
2) 12 2.139.
°) Vermöge der Vorstellung, die das Parlament dem king in par-
liament gleichsetzt. Daher wird von englischen Schriftstellern eine
doppelte Qualität des Königs: als Person und als Institution, unter-
schieden. So Allen, Inquiry into the rise and growth of the royal
Prerogative in England, new ed. 1849 p.26ff., der daher vom parla-
mentarischen König sagen kann: he really does nothing, but he nominally
does everything.
4) Rehm, Staatslehre S.236, 286, will Montesquieu zum Ver-
treter einer Lehre stempeln, die Abhängigkeit der Exekutive von der
Legislative fordert, namentlich deshalb, weil er jährliche Steuer-
bewilligung durch’ die Legislative verlangt, ansonst die exekutive Gewalt