Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewal.e 499
näher, erörtert überhaupt nicht die Frage nach der Einheit des
Staates und das Verhältnis der Gewalten zu dieser Einheit.
In der Folge führt die Lehre von der Gewaltenteilung in
dieser Form zu einer völligen theoretischen Teilung des einen
Staates in drei Personen. Am schärfsten ist dies von Kant
ausgesprochen worden, der die drei Gewalten im Staate aus-
drücklich als ‚so viel moralische Personen‘ bezeichnet, die sich
gegenseitig ergänzen und einander untergeordnet sein sollen).
Sobald aber diese Lehre in die Praxis umgesetzt werden soll,
erheben sich theoretische und praktische Bedenken. Die letzteren
entspringen aus den politischen Bedürfnissen, die niemals von
irgendeiner abstrakten Formel gänzlich beherrscht werden können.
Namentlich lehrreich ist in dieser Hinsicht die Haltung der fran-
zösischen Konstituante, die in der Erklärung der Menschenrechte
das Prinzip der Gewaltenteilung proklamiert, sich aber außer-
stand gesetzt sieht, es in all seinen letzten Konsequenzen, trotz
allem Doktrinarismus, zu verfolgen, vielmehr in der Legislative
ein Organ schafft, in dem alle Gewalten sich vereinigen. Theo-
retisch wirkt aber die den demokratischen Anschauungen zu-
srunde liegende Lehre von.der Volkssouveränetät dahin, die
Gewaltenteilung doch nur als untergeordnetes Prinzip wirken
zu lassen?2). Als die Amerikaner, die zuerst die strikte Ge
nicht mehr von der legislativen abhängen würde (ne dependra plus d'elle).
Dieses ‚„dependre“ ist aber nichts als das Korrelat des Vetos der
Exekutive sowie ihres Rechtes, die Legislative zusammenzuberufen und
zu schließen, wodurch wiederum die Legislative von der "Exekutive
dependiert. „Il faut que, ‚par la disposition des choses, le pouvoir
arr&te pouvoir.“ Von diesem Kernpunkt der Montesquieuschen
Lehre aus wird jenes dependre verständlich. So ist wenigstens
Montesquieu bisher verstanden worden, so hat er welthistorisch ge-
wirkt. Über einen weiteren Irrtum Rehms über Montesquieus Lehre,
den R. Schmidt unbesehen übernommen hat, vgl. G. Jellinek Eine
neue Theorie über die Lehre Montesquieus von den Staatsgewalten,
(srünhuts Zeitschrift XXX 1902 S. L£f.
1) Rechtslehre 88 45, 48. Über Anhänger der Kantschen Lehre
vgl. Mohl Geschichte u. Lit. I S. 273.
2) Vgl. Duguit in seinem gründlichen Buch: La separation des
pouvoirs et l’asseınblee nationale de 1789, 1893, p. 19. Über die Unter-
ordnung der richterlichen Gewalt unter die gesetzgebende daselbst,
p. 90ff., ferner das treffende Gesamturteil über die Schöpfer der Ver-
fassung p.116: „Ils declarent les trois pouvoirs &gaux et independants
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