22 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
ı Bei solcher Sachlage ist für die staatswissenschaftliche
Forschung nur eine zweifache Möglichkeit gegeben. Entweder
man begibt sich auf den Boden schwankender Hypothesen, um
ein Glaubensbekenntnis über die Anfänge der gesellschaftlichen
Institutionen abzulegen, oder man entsagt solchem Beginnen ir
der Überzeugung, daß es vom Standpunkt unserer heutigen (und
wahrscheinlich auch künftigen) Kenntnisse unmöglich ist, irgend-
eine sozialwissenschaftliche Disziplin derart zu fundieren, daß
man den ganzen Umwandlungsprozeß der von ihr zu erklärenden
Erscheinungen von ihren ersten Anfängen an mit Sicherheit dar-
zustellen in der Lage wäre. Die zweite Alternative zu ergreifen,
ziemt dem wissenschaftlich besonnenen Forscher, der nicht selb-
ständige Untersuchungen über jene ÜUrgeschichte anstellen will,
sondern auf die Verwertung ihrer Resultate für seine Zwecke
angewiesen ist.
Derartige Beschränkung kann aber um so leichter geübt
werden, als, wie später‘ eingehend nachgewiesen werden wird,
die weitere Ausgestaltung einer menschlichen Institution keines-
wegs von ihrem Ursprung abhängt, vielmehr von ein und dem-
selben Ausgangspunkte aus ein und dasselbe "Institut in der
mannigfachsten Weise sich umbilden kann, was übrigens ohne
weiteres von all denen zugegeben werden muß, die diese
Mannigfaltigkeit auf eine ursprüngliche Einheit zurückzuführen
bestrebt sind.
Eine zweite Begrenzung unserer Aufgabe liegt darin, daß
sie im wesentlichen nur die Erscheinungen der heutigen abend:
ländischen Staatenwelt und deren Vergangenheit insoweit, als es
zum Verständnis der Gegenwart nötig ist, als Forschungsobjekt
betrachtet. Diese Staaten bilden in ihrer ganzen, historischen
Entwicklung einen selbständigen Zweig der gesamten Staaten-
familie. Allerdings hat die asiatische Staatenwelt gemeinsame
Wurzeln mit der abendländischen, aber sie hat sich dennoch
unabhängig von ihr entwickelt. Auf Hellas und Rom hat
zweifellos orientalische Kultur eingewirkt, und demgemäß sind
politische Einrichtungen Ägyptens, Persiens usw. für jene Staaten-
bildungen von Bedeutung geworden. Eingehende Untersuchung
und Berücksichtigung der altorientalischen Staaten ist aber un-
möglich, weil das uns bekannte Material über sie viel zu gering
ıst, um ein mehr als oberflächliches. Urteil gestatten zu können.
Nur die äußersten Grundzüge der. altorientalischen Staats-