5206 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
Königtum Frankreich verlieh. Zwei wichtige neue Prinzipien
liegen der Charte constitutionnelle Ludwigs XVII. vom 4. Juni
1814 zugrunde. Erstens gibt sich die Verfassung als eine frei-
willige Gewährung von seiten des Königs!), da sie von dem
Rechtsgedanken ausgeht, daß ursprünglich die ganze Staatsgewalt
beim König ruhe, dem Volke jedoch an deren Ausübung ein
Anteil zugestanden werden könne. So wird dem demokratischen
Prinzipe zum ersten Male das monarchische Prinzip gegenüber-
gestellt?), ein in Hinsicht auf die Möglichkeit konstitutioneller
Beschränkung des Monarchen völlig neuer Gedanke, da alle
früheren amerikanischen und europäischen Verfassungsurkunden
auf der, absolute Gültigkeit für alle Staaten beanspruchenden,
Theorie von der dem Volke primär zustehenden konstituierenden
Gewalt beruhten. Die überragende Stellung des Königs auch in
der Gesetzgebung wird dadurch hervorgehoben, daß ihm allein
die Initiative zu den Gesetzen zusteht?). Von nicht geringerer
Bedeutung aber ist es ferner, daß die Charte englische Ver-
hältnisse zum Vorbilde nimmt. War bis dahin die Wirkung des
republikanischen Amerika in der Verfassungsgesetzgebung nach-
zuweisen, so ist es nun das altkönigliche England, das noch in
ganz anderer Weise als nach der Lehre Montesquieus als
Urbild des Verfassungsstaates erscheint. Im Gefolge der Charte
beginnt die schon vorher durch B. Constant begründete neuere
französische konstitutionelle Theorie, die englische Institutionen
in französischer Beleuchtung als mustergültig hinstellt, ihre Pro-
paganda, in deren Verlaufe sie zum konstitutionellen Naturrecht
der liberalen Parteien wird. Von besonderer Bedeutung ist es,
daß die Charte die durch die Montesquieu’sche Schablone
und die amerikanischen Ideen geforderte Trennung von Parlament
und Ministerium aufhebt, sowie daß sıe der Krone das Recht
der Auflösung der Deputiertenkammer zuerteilt*) und damit der
1) Mit Vorbedacht hatte man den Ausdruck Konstitution verworfen
und den an die alten Freiheitsbriefe erinnernden Terminus „Charte“
gewählt.
2) Vgl. oben S. 469 f.
3) Charte const., Art. 16. Die Kammern können nur um Vorlage
eines Gesetzes petitionieren, Art. 19.
4) Charte, Art.50. Die ersten französischen Verfassungen bis zum
Senatuskonsult vom 14. Thermidor des Jahres X kannten überhaupt kein
Auflösungsrecht der Kammern. Das erste Kaiserreich legte diese Be-