Full text: Allgemeine Staatslehre

Fünfzehntes Kapitel. Die Staatsverfassung. 527 
Möglichkeit einer Parlamentsregierung nach englischeın Muster 
den Weg bahnt. 
Trotzdem die nach der Julirevolution revidierte Charte sich 
in den Grundzügen an die bisherige anschließt und viele Artikel 
aus ihr unverändert herübernimmt, stellt sie sich doch auf eine 
ganz andere Basis. Sie ist nicht mehr einseitig vom König ge- 
geben, sondern eine Vereinbarung zwischen König und Parlament. 
Das monarchische Prinzip ist zwar nicht ausdrücklich aufgegeben, 
aber Louis Philipp bezeichnet sich nicht mehr als König von 
Gottes Gnaden und heißt König der Franzosen, nicht, wie die 
Bourbonen, von Frankreich und Navarra. Gemäß den veränderten 
Machtverhältnissen zwischen Krone und Parlament, dem nunmehr 
auch die Initiative zugestanden ist, verwandelt sich die während 
der Restauration zeitweilig verwirklichte Möglichkeit einer par- 
lamentarischen Regierung in eine politische Notwendigkeit, die 
von da an als Dogma in das Programm des konstitutionellen 
Naturrechts aufgenommen wird!). 
Über den für das formelle Verfassungsrecht wichtigsten 
Punkt schweigt die Charte vollständig, nämlich über die Formen 
für ihre Abänderung. Darum muß der Jurist: den Schluß ziehen, 
daß sie den Unterschied zwischen einfachen und Verfassungs- 
gesetzen nicht kennt, also auch darin sich an englische An- 
schauungen anschließt. Ist die Verfassung 'ein Geschenk des 
Königs, so läßt sich auch nicht absehen, weshalb ihre Änderung 
besonderen Garantien unterliegen sollte, da ja bei dem Vorbehalt 
der königlichen Initiative des Königs Wille hinreichende Gewähr 
dafür bot, daß ihre Beständigkeit nicht von dem Willen der je- 
weiligen Kammermajorität abhing. In der Tat wurden noch unter 
Ludwig XVIII. wichtige Verfassungsänderungen auf Vorschlag 
  
fugnis nicht dem Kaiser, sondern dem Senat bei. Vgl. Matter La 
dissolution des assembi&es parlementaires, Paris 1898, p. 62 ff. Englischem 
Vorbild nachgeahmt ist auch die Pairskammer der Charte, die wiederum 
das Vorbild für die ersten Kammern vieler anderer Staaten wurde. 
1) Im Jahre 1830 erschien in dem zur Bekämpfung des persönlichen 
Regimes Karls X. gegründeten Oppositionsblatt „Le National“ der be- 
rühmte Artikel des jungen Thiers, der hier den Satz aufstellt: „Le ro: 
rögne, les ministres gouvernent, les chambres jugent“, und hierauf das 
Dogma predigt: „Dös que le mal gouverner commence, le roi ou les 
chambres renversent le ministöre qui gouverne mal et les chambres 
offrent leur majorit@ comme liste des candidats.“ Vgl. Duvergier de 
Hauranne X, p.398.
	        
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