Full text: Allgemeine Staatslehre

Fünfzehntes Kapitel. Die Staatsverfassung. 529 
Charte beeinflußt. Noch das österreichische Grundgesetz über 
die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 zählt, durch Ver- 
mittelung der ihm zum Vorbilde dienenden älteren deutschen 
Verfassungen, zu den unter dem Einfluß der Charte stehenden 
Verfassungen!!). 
6. Bald nach der Revision der französischen Charte wird die 
belgische Verfassung vom 7. Februar 1831 von der konstituierenden 
Nationalversammlung des jungen Staates verkündet. Sie steht 
unter der Einwirkung sowohl der französischen Verfassung von 
1791 als der revidierten Charte, knüpft aber auch an ältere ein- 
heimische Institutionen an. Sie ruht ausgesprochen auf dem 
demokratischen Prinzipe, indem sie alle Gewalt von der Nation 
ausgehen läßt, dem König daher nur so weit Gewalt zugesteht, 
als sie ihm ausdrücklich zur Ausübung delegiert ıst?). Trotzdem 
aber ist das belgische Königtum mit allen wesentlichen monar- 
chischen Rechten ausgestattet. Politisch allerdings ist das Parlament 
nach Lage der Sache die herrschende Macht, zumal für direkte 
Äußerungen des Volkswillens in dieser Verfassung kein Raum ist. 
Nicht etwa aus dem Buchstaben der Verfassung, sondern aus den 
juristisch nicht meßbaren realen Machtverhältnissen der beiden 
unmittelbaren Staatsorgane folgt die Notwendigkeit parlamen- 
  
I) Trotz aller Einwirkung fremder Vorbilder ist die österreichische 
Verfassung ganz eigenartig gestaltet. Die Februarverfassung bestand 
nur aus einem Reichsratsstatut und den Landesordnungen, war also 
nicht ein die Grundlagen des gesamten Öffentlichen Rechtes zusammen- 
fassendes Dokument. Aber auch die Staatsgrundgesetze von 1867 
weichen, abgesehen von den selbständig gebliebenen Landesordnungen, 
ganz von dem Typus der Verfassungsurkunden ab. Nicht ein, sondern 
fünf nebeneinanderstehende Grundgesetze, zu denen noch das Gesetz 
über die mit Ungarn gemeinsamen Angelegenheiten tritt, bilden in 
ihrer Gesamtheit die Reichsverfassung. Diese Art der Verfassungs- 
gesetzgebung ist später im Frankreich der dritten, Republik angewendet 
worden. Die heutige französische Verfassung ist nicht in einem 
Instrumente niedergelegt, sondern in den drei konstitutionellen Gesetzen 
vön 1875. Die Franzosen weisen zwar auf die Analogie der Verfassungen 
der beiden Kaiserreiche hin, die durch aufeinanderfolgende Senatus- 
konsulte fortgebildet wurden, doch hat es sich da immer um Zusätze 
oder Änderungen hinsichtlich einer schon bestehenden Konstitution ge- 
handelt. Vgl. Esmein Droit const. p. 5621. 
2) Über diese juristisch belanglose Delegation vgl. Vauthier Das 
Staatsrecht des Königreichs Belgien (in Marquardsens Handbuch) 
S.19£. Vgl. ferner Sınend Die preußische Verfassungsurkunde im Ver- 
gleich mit der belgischen 1904 S. 48ft. 
G.Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 34
	        
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