Full text: Allgemeine Staatslehre

Fünfzehntes Kapitel. Die Staatsverfassung. 539 
in der Theorie die Befolgung des Wegs der Verfassungsänderung 
gefordert werdent). 
Nicht nur durch Gesetze, auch durch einfache parlamentarische 
Beschlüsse können Verfassungsänderungen bewirkt werden. Bei 
biegsamer Verfassung, wo die Kompetenzen der Staatsorgane 
nicht klar umschrieben sind, kann in großem Umfang auf dem 
Wege der parlamentarıschen Geschäftsordnung neues Recht ge- 
schaffen werden. Durch Standing Orders und Resolutionen des 
englischen Unterhauses sind höchst bedeutsame Änderungen in 
der Stellung dieses Hauses zu den Lords bewirkt, ist häufig das 
Wahlrecht geregelt, ist die Wählbarkeit der Richter ausgeschlossen 
worden?). Aber auch bei starrer Verfassung Ist, wenn auch in 
engeren Grenzen, Schaffung von Recht praeter und contra legem 
fundamentalem durch Geschäftsordnung einer Kammer möglich. 
So weiß die preußische Verfassung nichts von einer Sanktion für 
Verweigerung des Verfassungseides der Kammermitglieder, die 
Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses hingegen 
erklärt, daß die Weigerung der Ableistung des Eides auf die 
Verfassung die Befugnis ausschließt, einen Sıtz im Hause ein- 
zunehmen?). Die Geschäftsordnungen beider Häuser des öster- 
reichischen Reichsrates berauben ohne gesetzliche Ermächtigung 
ihre Vorsitzenden des Stimmrechtes®%). Da es in diesen Fällen 
kein Rechtsmittel gibt, um die verfassungsmäßigen Vorschriften 
zur Geltung zu bringen, so schaffen sie für die Dauer der Geltung 
derartiger Normen einen ähnlichen Zustand wie ein verfassungs- 
änderndes, aber ohne die Formen der Verfassungsänderung zu- 
stande gekommenes Gesetz. 
  
ı) Vgl. Laband II S.41. 
2) Vgl. May Treatise on the Law of Parliament, 11th ed. 1906 
p.583£.; Hatschek Engl. Staatsr. I p. 366 ff. 
3) G.O.v. 16. Mai 1876 86; Verf. Art. 108. 
4) G.O. für das Abgeordnetenhaus v. 2. März 1875 8 64, G.O. für das 
Herrenhaus v. 25. Januar 1875 853.
	        
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