556 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
existieren. Das ıst aber das gesetzgebende Organ, da diesem
allein die oberste Entscheidungsgewalt zusteht. So sind im
heutigen Frankreich die Kammern das höchste Organ gegenüber
dem Präsidenten, da sie allein über Änderungen der Rechts-
ordnung zu befinden haben und die ganze Verfassung, die Existenz
der Präsidentschaft eingeschlossen, von ihrem unbeschränkten
Willen abhängig ist. In den Vereinigten Staaten hingegen er-
weisen sich die sekundären Gesetzgebungsorgane im Verein mit
den primären verfassungsändernden als die höheren gegenüber
der Regierung. Jedoch auch der Kongreß steht dem Präsidenten
trotz der Theorie des Gleichgewichtes der Gewalten als das
höhere Organ gegenüber, obwohl, gerade weil man ihrem gegen-
seitigen Verhältnisse das Prinzip der Gewaltenteilung zugrunde
gelegt, tiefgreifende, nur durch politischen Takt zu vermeidende
Konflikte zwischen ihnen möglich sind!). Wo endlich zwei
gegeneinander ganz selbständige, nicht in der Einheit eines
primären Organs versöhnte Organe sich gegenüberstehen, wie in
der konstitutionellen Monarchie, da ist der Monarch das höhere
Organ gegenüber dem Volksorgane.
Unter allen Umständen kann aber auch dort, wo eine
Mehrheit unmittelbarer Organe vorhanden ist, niemals einer von
ihnen dem Imperium eines anderen untertan sein. Der Monarch
ist das höhere Organ gegenüber den Kammern, aber er kann
ihnen nichts befehlen, die Kammern sind ihm für nichts ver-
antwortlich. Er kann sie in und außer Tätigkeit setzen, vermag
aber nicht, diese Tätigkeit inhaltlich zu bestimmen. Auch vom
sekundären Organ gilt das in seinem Verhältnis zum primären.
Das Volk der Vereinigten Staaten wählt den Präsidenten als
Repräsentanten der primär ihm selbst zustehenden exekutiven
Gewalt, kann ihm jedoch keinen wie immer gearteten Auftrag
erteilen, er hat keinen Dienstherrn, keinen Vorgesetzten.
Von dem Satze der Notwendigkeit eines höchsten Organes
kann es eine Ausnahme geben im Bundesstaate. Kraft des
föderativen Prinzipes gibt es in demokratischen Bundesstaaten
neben dem einheitlichen Gesamtstaatsvolke noch ein zweites
höchstes primäres Organ, die Staaten. Die Rechtsmacht über
Verfassungsänderungen steht in der Union den Staatenlegislaturen
als sekundären Organen der Staaten zu, in der Eidgenossenschaft
1) Vgl. Woodrow Wilson Congressional Government p. 270 ff.