570 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
ihrer rechtlichen Eigenart nıcht erkannt. Und doch lebt die Idee
des fortdauernden höchten Rechtes des Volkes auch nach dessen
Monopolisierung durch den Senat weiter, und aus dem senatus
populi Romani der früheren Republik wurde der senatus popu-
lusque Romanus der letzten republikanischen und der Kaiser-
zeit, hinter welcher Formel sich doch die Vorstellung verbergen
mußte, daß der Senat nunmehr auch die Bürgergemeinde dar-
stelle?).
Ganz anders gestalten sich die mittelalterlichen Verhältnisse.
Der mittelalterliche Staat ist Flächenstaat, er ist dualistisch
geartet gegenüber dem einheitlich gebauten antiken Staate. Sein
Volk ist nicht sowohl eine Vereinigung gleichartiger Individuen
als vielmehr eine Vielheit von einzelnen und Verbänden. Herr-
schaftliche Verbände mit einem Grundherrn an der Spitze, Kirchen
und Klöster mit ihren Eigenleuten, Gemeinden und genossen-
schaftliche Verbände anderer Art sind ın großem Umfange die
unmittelbaren Glieder des Staates, in sich einen großen Teil
des dem direkten Verkehr mit der Staatsgewalt entrückten Volkes
bergend. Diese Momente schaffen für den Repräsentations-
gedanken den breiten sozialen Boden. Das reiche genossenschaft-
liche Leben gibt den Anstoß zu einer theoretischen Erfassung
dieses Gedankens, der wissenschaftlich zuerst in der Korporations-
lehre der Glossatoren und Kanonisten ausgebildet wird?). Un-
abhängig von jeder Theorie aber treiben die politischen und
sozialen Verhältnisse zur Schaffung repräsentierender Organe.
Nur in Form des gegliederten Heeres kann sich anfangs das
Volk versammeln, wird aber bald durch das Feudalsystem zum
großen Teile aus dem einheitlichen Heeresverbande gedrängt.
Im Flächenstaate werden ferner regelmäßige Zusammenkünfte des
Volkes zur Unmöglichkeit. Anderseits jedoch fordert der niemals
überwundene Dualismus von Fürst und Volk eine Vertretung des
letzteren gegenüber dem ersteren. Diese Vertretung entwickelt
sich auf verschiedenen Wegen ganz natürlich dahin, daß die
meliores terrae, die geistlichen und weltlichen Großen sich als
das Volk ım politischen Sinne konstituieren. Ihr Recht, das in
jedem Staate auf eigenartige Weise entsteht, wird von ihnen
1) Mommsen Abriß S.340. Über die römische Anschauung der
Repräsentation der Körperschaft durch ihre Organe vgl. auch Regels-
berger 1 S.323 und die daselbst N.2 angeführten Quellenstellen.
2) Vgl. Gierke Genossenschaftsr. III S. 394, 478.