Full text: Allgemeine Staatslehre

574 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre. 
ist nicht Wille des ihn entsendenden Verbandes, sondern ein 
Willensclement des ganzen Reiches!). So wächst in natürlicher 
Weise aus den gegebenen Verhältnissen die für den modernen 
Repräsentativstaat grundlegende Ansicht hervor, daß die Mit- 
glieder des Parlamentes die Volksgesamtheit repräsentieren?). 
Anders, aber zu demselben Resultate führend war der Ent- 
wicklungsgang in Frankreich. Während in England die Mitglieder 
des Oberhauses Virilstimmen hatten, gilt in Frankreich auch 
für clerge und noblesse das Prinzip der Wahl, nicht nur für den 
dritten Stand®). Alle drei traten mit den von ihren Wählern 
  
1) Das konstatiert Blackstone, 12 p.159, mit den berühmten 
Worten: „And every member, though chosen by one particular district 
when elected and returned, serves for the whole realm. For the end 
of his coming thither is not particular, but general: not barely to ad- 
vantage his constituents, but the common wealth; to advise his sove- 
reign (as appears from the writ of summons) „de communi consilio super 
negotiis quibusdam arduis et urgentibus, regem, statum, et defensionem 
regni Angliae et ecclesiae Anglicanae concernentibus“. And, therefore, 
he is not bound to consult with, or take the advice of his constituents 
upon any particular point, unless he himself thınks it proper or prudent 
to do so.“ Als schlagendstes Beispiel dafür, daB diese Anschauung 
geltendes Recht ist, wird auf die Septennial-Bill von 1716 verwiesen, 
durch welche das Parlament seine eigene Dauer von drei auf sieben Jalıre 
verlängerte. Das Unterhaus wurde damals nicht aufgelöst, sondern fun- 
gierte gemäß dem neuen Gesetze um vier Jahre länger. Vgl. Dicey p.42ff. 
2) Aus dem repräsentativen Charakter des ganzen Parlamentes folgt 
auch der des Oberhauses, dessen rechtliche Stellung in dieser Hinsicht 
aber nicht so klar durchgeführt ist; man denke vor allem an dessen 
mindere Rechte bezüglich der Geldbewilligungen: Sussmann a.a.0. 
S.142ff. Es ist jedoch auch zu erwähnen, daß der Satz von dem rein 
repräsentativen Charakter der Gewählten noch öfter bestritten wurde. 
So trat Burke 1774 energisch gegen den Versuch auf, den Unterhaus- 
mitgliedern bei der Wahl bindende Versprechungen abzunehmen. (Vgl. 
May Constitutional history of England 1 1861 p. 444 ff.) Wie Esmein, 
Droit const. p. 83 n. 2, erwähnt, ist noch 1893 gelegentlich der Homerule- 
Debatten von der Opposition behauptet worden, die Abgeordneten 
hätten von ihren Wählern kein Mandat zum Beschlusse einer solchen 
Maßregel erhalten. In den Vereinigten Staaten haben viele Verfassungen 
der Einzelstaaten den Wählern das Recht zur Instruktionserteilung sogar 
ausdrücklich gewahrt. Auch Instruktionen der Senatsmitglieder sind 
vorgekommen. Die amerikanischen Autoritäten haben sich allerdings 
gegen diese Praxis ausgesprochen. Vgl. darüber Rüttimann I I71ff. 
3) Die verwickelten Details dieser Verhältnisse siehe bei Esmein 
Cours elementaire d’histoire, 5. &d. p. 492ff. Die Abgeordneten erhielten 
auch von ihren Wählern eine Bezahlung, die oft als schwere Last von
	        
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