581 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
aber, indem es ihn positiv bestimmt. Vielmehr gehört die gesetz-
geberische Tätigkeit ın das legale Gebiet der Politik. Die ab-
strakte Norm, das gemeine Beste zu suchen, so sehr sie aus dem
Wesen aller staatlichen Tätigkeit folgt, ist in ihrer Unbestimmt-
heit nicht imstande, einen festen Maßstab für das politische
Handeln im Einzelfalle -.abzugeben. Daß jeder das ihm gut
Dünkende für das allgemeine Beste hält, ist ja selbstverständlich
— auch der absoluteste Monarch hat seine egoistischsten Hand-
lungen für identisch mit dem allgemeinen Besten gehalten. Daher
widerspricht Parteiung und Gegensatz mit nichten jener all-
gemeinen Formel, derzufolge das Kammermitglied das gesamte
Volk repräsentiert, so wenig in der unmittelbaren Demokratie
der dort über jeden Verdacht der Fiktion erhabene Volkswille
je anders als durch Kampf, Sieg oder Kompromiß verschiedener
Parteien gebildet wird. Auch beim einzelnen Kammermitglied,
wie in der gesamten Kammer, ist der Kampf in das Vor-
bereitungsstadium des in der Abstimmung erklärten Beschlusses
verlegt. Die Abstimmung jedoch produziert einen in sich einheit-
lichen Willensakt, der rechtlich jeder entscheidenden Willens-
äußerung eines Mitgliedes irgendeiner kollegialisch gestalteten
Behörde völlig gleichwertig ist!). Kommen doch politische, soziale
und konfessionelle Gegensätze auch ın solchen Behörden vor und
können die Entschlüsse der einzelnen Mitglieder beeinflussen,
ohne daß von ihnen deshalb eine Pflichtwidrigkeit begangen
würde, namentlich dann, wenn es sich nicht um Rechts-, sondern
um Ermessensfragen handelt).
Fassen wir das Erörterte zusammen, so ergibt sich, daß die
moderne Volksvertretung im ganzen und ihre Mitglieder als deren
1) Radnitzky, Das Wesen der Obstruktionstaktik, Grünhuts Zeit-
schrift XXXI 1904 S.475ff., will die Wähler und die Kammermitglieder
als Interessenten im Rechtssinne und die parlamentarischen Parteien
als Streitgenossenschaften aufgefaßt wissen, die im parlamentarischen
Verfahren ihre Interessen vor dem Gesamtparlamente vertreten und in
dessen Beschlüssen zur Geltung zu bringen versuchen. Hierzu Kelsen
Hauptprobleme S. 475ff.; Koller Die Obstruktion 1910 S.198; E. Zweig
in der Z.£. Politik VI 1913 S. 271. Auch diese Lehre sucht politische
Vorgänge, die der juristischen Konstruktion spotten, ins Rechtsgebiet
zu erheben.
2) Ist doch die Zahl der Behörden, in welchen die sozialen Klassen
ihre Vertretung finden, im Steigen begriffen. Man denke an die Schieds-
gerichte der Angestelltenversicherung, das Reichsversicherungsamt, die
Landes-, die Oberversicherungsämter, die Versicherungsämter, die Ge-