Achtzehntes Kapitel. Die Funktionen des Staates. 609
Vorherrschaft, ın erster Linie England, wo das Parlament nicht
nur Gesetzgeber ist, sondern auch durch die private bills direkt
an der Verwaltung teilnimmt, wo das Oberhaus das höchste Ge-
richt des Reiches ist, wo das Kabinett dem Parlamente angehören
muß und von diesem, nicht der Form, aber der Sache nach, der
Premierminister und damit indirekt das ganze Kabinett designiert
wird, wo der Lordkanzler Präsident des Oberhauses und zugleich
oberster Richter des Reiches ist, wo die Friedensrichter in
mittlerer und unterer Instanz Verwaltung und Justiz vereinigten
und zum Teil noch immer vereinigen.
Aus dieser Erkenntnis erwächst die Notwendigkeit, zwischen
materiellen und formellen Funktionen zu scheiden, d. h.
zwischen den großen Richtungen der Staatstätigkeit und den
Tätigkeiten bestimmter Organgruppen!). Die naive Gleichstellung
von Örgantätigkeit mit Staatsfunktion, wie sie die Staatslehre
von Aristoteles bis in die Gegenwart geübt hat, vermag die
wichtigen theoretischen und praktischen Probleme der Funktionen-
lehre nicht befriedigend zu lösen.
Die materiellen Staatsfunktionen ergeben sich einmal durch
die Beziehung der Staatstätigkeit auf die Staatszwecke. Vermöge
1) Dieser Gegensatz ist zuerst erkannt und entwickelt worden von
Schmitthenner, Grundlinien des allg. oder idealen Staatsrechtes
1845 S.474ff. Vgl. zum folgenden G. Jellinek Gesetz und Verordnung
S.213£f.. Auf die umfassende Kritik, die Haenel, Studien II S. 246 ff.,
der von mir entwickelten Funktionenlehre zuteil werden ließ, kann
hier nicht näher eingegangen werden. Sie beruht nicht zum geringsten
auf dem Gegensatz unserer Methoden. Wer, wie Haenel, des Glaubens
ist, daß es hinter dem flüssigen Wesen der staatlichen Institutionen,
das mir allein als das erkennbare erscheint, ein ewiges, mit absoluten
Kategorien zu erfassendes Ansich gibt, der hat allerdings das Recht,
jene Begriffe in Form fett und gesperrt gedruckter Sätze, die jeden
Widerspruch ausschließen, in die Erscheinungswelt zu ziehen. Sie
werden aber doch nur den überzeugen, dem gleiche Kraft des Glaubens
wie ihren: Entdecker verliehen ist. Interessant ist es, daß man auch
in Amerika, wo die Gewaltenteilung der Verfassung in weitgehender
Weise zugrunde gelegt wurde, nunmehr den Gegensatz von materiellen
und formellen Funktionen klar erkannt hat. Goodnow, Comparative
Administrative Law, New York and London 1902, I p.25ff., erörtert
eingehend die exekutiven Funktionen der Legislative, die legislativen
Funktionen der Exekutive und die exekutiven Funktionen der Gerichte.
Damit führt die amerikanische Staatsrechtslehre allerdings nur Ge-
danken weiter aus, die bereits den Gründern der Union und ihrer Staaten
bekannt waren; vgl. oben S.500.
G. Jellinek, Allg. Staatsiehre. 3. Aufl. 39