Full text: Allgemeine Staatslehre

Achtzehntes Kapitel. Die Funktionen des Staates. 615 
was ein Gesetz seinem Inhalte nach sei. Die Gesetzgeber, Ver- 
walter, Richter empfangen ihre Zuständigkeiten durch staatliche 
Zuteilung. Einer der leitenden Gedanken in Austeilung seiner 
Kompetenzen ist aber für den Staat der, daß das objektiv Ge- 
schiedene es auch subjektiv sein solle. Dennoch können sich 
materielle und formelle Funktionen subjektiv niemals vollständig 
decken, weil scharfe Grenzlinien der Theorie, aber nicht dem 
Leben möglich sind. Nicht architektonische Schönheits-, sondern 
politische Zweckmäßigkeitsrücksichten sind es, die die wirkliche 
Staatsordnung bestimmen und mancherlei Abweichungen selbst 
von ausdrücklich anerkannten Regeln herbeiführen !). 
In der Scheidung der formellen Funktionen hat die französisch- 
amerikanische konstitutionelle Theorie die sicherste Garantie der 
gesetzlichen Ausübung der Staatsgewalt und damit die Gewähr 
der politischen Freiheit des Bürgers erblickt. Die voneinander 
unabhängigen Gewalten bilden gleichsam ein ineinandergreifendes 
Räderwerk, ın dem das eine Rad regulierend in das andere hinüber- 
greift. Die normale Gestaltung der formellen Funktionen soll 
daher ein System von „checks and balances‘“ in sich schließen, 
das die einzelnen Gewalten hindert, ihre gesetzliche Sphäre zu 
überschreiten. Auch diese abstrakte Formel, wie so manche 
andere, gilt nur innerhalb gewisser Grenzen. Am meisten trifft 
sie zu bei der Trennung der Justiz von der Verwaltung. Gibt 
man aber, wie in Amerika, dem Richter ein unbegrenztes Prüfungs- 
recht der Gesetze auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit, was 
dort als Folge aus dem Prinzipe der Gewaltenteilung geboten ist, 
so kann er, wie die Erfahrung lehrt, die ganze gesetzgebende 
Tätigkeit auf wichtigen Gebieten zur Untätigkeit zwingen?). 
Nicht minder wäre bei tiefgreifenden Konflikten zwischen Gesetz- 
gebung und Vollziehung unter Umständen der ganze Staat zu 
völligem Stillstand verdammt. Solche Fälle finden auch nicht 
1) Nähere Ausführungen hierüber in: Gesetz und Verordnung S.2231£. 
2) Viele sozialpolitische Gesetze in nordamerikanischen Gliedstaaten 
sind neuestens von den Richtern als gegen die Bills of Rights ver 
stoßend für verfassungswidrig erklärt worden. Vgl. auch G.Jellinek Das 
Recht der Minoritäten S.26 N.44; Freund Police Power 8$ 310 £f., 735; 
derselbe Öff. R. d. Vereinigten Staaten von Amerika 1911 S. 281 ff.; 
W.Loewy Die bestritiene Verfassungsmäßigkeit der Arbeitergesetze 1905 
S.54ff. Das Unionsobergericht hat vor kurzem alle gesetzlichen Be- 
schränkungen der Arbeitszeit für nichtig erklärt. Hierüber W.Loewy 
im Arch. f. Sozialwissenschaft XXII S. 721£f.
	        
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